Wozu brauchen wir Ästhetik? von Armin Petras
(„Erobert euer Grab !“ Aischylos)
1 Freiheit
Was ist Schönheit in der Kunst? Warum finden wir etwas schön, obwohl wir es in dieser Form noch nie gesehen haben? Warum sieht Theater alle fünf Jahre anders aus? Wieso lehnen wir Kunstwerke ab und können doch von ihnen bewegt sein? Wozu ist Kunst überhaupt gut? Und wie arbeitet er, der Künstler,wie können wir die Prozesse, in die er sich begibt, verstehen?
Nietzsche vermerkt dazu: „Das Genie ist wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt; er tastet aber nicht um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen.“ Aber wie geht das Sammeln, Fangen, Auswählen, Ordnen, Gliedern, Übermalen …? Nach welchen Kriterien urteilt der Künstler und mit ihm auch der Mensch, der ihm zuschaut und im Akt der Betrachtung ästhetisch arbeitet? Hat Leibniz Recht, wenn er formuliert, dass nicht nur die Handlungen des Verstandes, sondern auch die sinnlichen Vorstellungen ein inneres Prinzip haben? Wenn ein 5-jähriges Mädchen Blumen zu Sträußen zusammenstellt, wird schnell klar, dass es das nicht über den Verstand macht. Die Schönheit ihrer Arbeit ist nicht das Resultat von Lehre, Vernunft und intellektueller Analyse – vielmehr scheint es etwas in uns zu geben, das auswählt, Geschmack hat. Man könnte vielleicht sagen, dass die Ästhetik ein anderes Denken ist, ein Denken der Sinnlichkeit. Das Mädchen wird nicht sagen können, warum eine Blume rot ist, es wird aber genau sagen können, welche Blumen für sie zum Thema „Rot“ gehören und welche von diesen Blumen schöne rote Blumen sind. Sinnliche Vorstellungen sind letztlich immer unerklärbar und doch sind sie ganz bestimmt. Das Mädchen wird die Blumen mit ruhigem Blick, aber ganz gezielt – gleichsam ohne Diskussion und einer plötzlichen Empfindung folgend – zusammenstellen.
Leibniz schreibt, es gibt sinnliche Auffassungen, die „angemessen“ genannt werden können, auch wenn die Entscheidungen, die zu diesen Urteilen führen, nicht zu definieren sind. David Hume präzisiert, dass wir alle eine mehr oder minder große Anlage zur Empfindung und damit zur Ausübung des Schönen haben (vielleicht nicht ganz so wie der Genie-Krebs von Nietzsche, aber doch jeder auf seine Art), dass diese Anlagen aber verschwinden, wenn sie nicht benutzt werden. „Die natürliche Veranlagung der ganzen Seele zum schönen Denken“, so der schottische Philosoph Hume, „erfordere ästhetische Übung.“ (Einer unserer Dramaturgen erzählte mir kürzlich von einem Telefonat mit einem Zuschauer. Dieser Zuschauer hatte 20 Jahre lang jede Premiere der Ballettsparte gesehen, war aber nicht ein einziges Mal im Schauspiel gewesen. Nach dem ersten Vorstellungsbesuch nach 20 Jahren rief er bei uns an. Den Satz, den er am Telefon am häufigsten wiederholte, war: „Das ist doch Wahnsinn.“ )
Wozu sollen diese inneren Anlagen der ästhetischen Erkenntnis benutzt werden? Ich habe zwei Vorschläge – erstens zur Freude: Farbe, Harmonie, Energie, Fremdheit, Überraschung, Geschwindigkeit. Und zweitens – zum Sammeln von Erfahrung: zur Selbsterkenntnis, um zu begreifen, wie wir leben oder dazu, „den Prozess des Bildens des Subjekts zu erkunden“, wie der Philosoph Christoph Menke es ausdrückt. Wenn wir diesen Prozess erkunden wollen, müssen wir rückwärts auf den Grund dessen, was Herder den „dunklen Mechanismus der Seele“ nennt. Die Frage, worin dieser besteht, beantwortet Herder mit großer Klarheit: er, der unheimliche (weil nicht völlig einsehbare) Mechanismus, besteht in der Kraft. Die Kraft ist „das große Geheimnis der Fortbildung, Verjüngung, Verfeinerung aller Wesen“: das, was in der Seele, in der dunklen (das heißt wohl letztlich unergründlichen) Seele wohnt und was sich erst im Gestalten, im Prozess des Formens und Hervorbringens manifestiert.
Kraft ist für Herder das innere Prinzip der Hervorbringung einer Gestalt aus einer anderen – vielleicht können wir hinzusetzen: Kraft ist auch das Gestalten von Formen und Figuren aus einer inneren Not, aus einem inneren Drang etwas hinzuzufügen zum Ganzen, das Eigene dem Ganzen hinzuzufügen, sich mit anderem Leben zu vernetzen, ein Teil zu sein von Etwas, Anteil zu nehmen, zu fließen … Die ästhetische Kraft der menschlichen Seele – so Herder – ist eine Arbeit, in der wir „empfangen, verarbeiten und fortpflanzen“. So ist also jedes Artefakt Ausdruck einer Kraft und gleichzeitig ein Behältnis derselben. Im Wirken des Zuschauens wirkt wieder eine Kraft – im Abgleich von Artefakt und meinem inneren Bild von ihm wird Bild gegen Bild getauscht. Etwas Neues, meist völlig anderes entsteht. ( Nur so sind völlig entgegen- gesetzte Meinungen von professionellen Kritikern zu ein und demselben Kunstwerk erklärbar – denn wenn sie wirklich das Artefakt, das Kunstwerk, beschreiben würden, könnten sie nicht so weit voneinander entfernt sein, aber das tun sie ja eben gerade nicht. Sie beschreiben die Mischfarben, die überall dort entstehen, wo ein Betrachter das fremde Kunstbild mit der Kraft der eigenen ästhetischen Anschauung anreichert. Sie tadeln / loben den Erzeuger des ersten eigentlichen Bildes / Artefaktes für die Erzeugung des zweiten, eigenen, oft in der stillschweigenden Annahme, dass dieses zweite Bild nach allgemeinen, immer gleichen heiligen Regeln entsteht, wogegen es in Wirklichkeit aus der eigenen, ganz individuellen sozialen, seelischen, politischen, historischen, erotischen, willentlichen Ko-Produktion erwächst. ) Im Wirken der ästhetischen Kraft wird Bild durch Bild ersetzt. Das Bild des Betrachters ersetzt das Bild des Herstellers: erst dadurch entsteht Kunst. Entstehen heißt dabei immer: im künstlerischen Prozess zu verschwinden (von Hölderlin stammt der Ausdruck „das Werden im Vergehen“ ). Dabei ist die entscheidende Idee des künstlerischen Prozesses, das jeweils Vorangegangene zu überschreiten. Künstler sind ihrer Zeit voraus: sie spekulieren auf eine Zukunft, die noch nicht da ist – und die manchmal niemals kommt. Eines der schönsten Beispiele dafür sind die Gemälde von Francis Bacon, die er jahrelang, manche jahrzehntelang, umgedreht an den Wänden seines Ateliers in London lagerte, „um zu sehen, ob man aus dem Mist noch was machen könne …“. Und tatsächlich konnte man /er /Francis Bacon nach ein paar Jahren an einigen Bildern weitermalen, sie fortführen, sie teilweise oder völlig übermalen oder sie einfach so rausgeben, weil sie jetzt, mit der Zeit, gut geworden waren. Vielleicht hatte die Zeit geholfen. Denn, so schreibt Friedrich Schlegel, „Kunstwerke sind Darstellungen, die sich selbst mit darstellen“, also auch einen Kontext mit darstellen und manchmal wächst dieser Kontext mit der Zeit und manchmal schwindet er.
Weswegen aber haben wir (im besten Falle) Vergnügen an der Kraft des Künstlers? Eine Antwort könnte lauten: das Vermögen des Künstlers überschreitet unser Vermögen und zwar nicht so sehr im Können: seien wir ehrlich, viele Künstler können gar nichts oder nur sehr wenig, aber das ist weniger wichtig. Worin also besteht ihr Können? In besonderen Fertigkeiten, in offensichtlich überirdischen Talenten? Wer könnte dieses Talent bei Van Gogh gesehen haben, einem Maler, der zu seinen Lebzeiten genau zwei Bilder verkaufte, davon eines an seinen Bruder. Warum sehen wir erst jetzt diese Fähigkeiten? Was hat Maria Callas mehr an Stimme gehabt als all die anderen? Was haben mir Rio Reiser, Heiner Müller, Einar Schleef und Christoph Schlingensief mehr gegeben als die vielen, vielen anderen? Sie haben ( in meinen Augen /d. h. für mich sichtbar ) einen Schritt gewagt, einen Schritt in ein anderes Land, sie haben eine mir unbekannte Tür geöffnet in ein anderes, mögliches Leben. Sie haben mit ihren Körpern, Kämpfen, Gedanken, Seelen eine andere Welt erobert, in die ich ab und an eintreten kann, um dort zu liegen, um mich dort aufzuhalten, zu lachen, zu weinen – sie haben mir etwas geschenkt ( was mir täglich, Sekunde um Sekunde, mehr geraubt wird ) und dieses Geschenk ist das Wertvollste, was ich je erhalten habe, es ist FREIHEIT. Meiner Erfahrung nach gibt es nur noch eine einzige zweite Möglichkeit auf dieser Welt, FREIHEIT zu bekommen – und diese Möglichkeit zu leben ist von Natur aus noch viel schwerer und komplizierter als ein Teil von Kunst zu sein, sie heißt Liebe.
2 Tragödie
Wenn Kunst Freiheit bedeutet, dann Freiheit wovon? Nietzsche schreibt: „Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hinabsehen und aus einer künstlerischen Ferne her über uns lachen oder über uns weinen.“ Um dann wieder „schweben und spielen“ zu können. Es gibt noch einen zweiten Aspekt von Freiheit, der mir einfällt, wenn ich Künstlern zuschaue und einen letzten dritten. Der zweite ist die Lust, sich selbst neu zu erschaffen. Die Teilnahme am moralisch guten, politisch korrekten Leben macht müde. Vor allem, weil es so meilenweit vom kapitalistischen Arbeitsleben entfernt ist, in dem es einzig darum geht, Profit zu machen (nein, keine Angst, hier geht es nicht um Kapitalismuskritik, hier geht es gar nicht um Kritik, es geht um Müdigkeit). Es macht müde, nicht zu töten, nicht Ehe zu brechen, nicht zu stehlen, nicht Drogen zu nehmen, nicht seinem Alter, seinem Geschlecht entsprechend zu leben. Es ist eine Lust, unvernünftig zu sein … es ist eine Lust, die dunkle Kraft der Seele wieder zu spüren, sie temporär und in der Teilhabe am künstlerischen Prozess freizulegen – um damit (wie Nietzsche schreibt) „das anmaßliche Reden von ‚Wollen‘ und ‚Schaffen‘ “ für die Dauer eines Augenblicks „in den Wind zu blasen ! “. Der Dramaturg Carl Hegemann schreibt in seinem Plädoyer für das zweckfreie Theater: „Das Theater als Institution ist Teil der Gesellschaft, so wie sie ist. Da gilt die normale gesellschaftliche Ordnung. Was aber auf der Bühne stattfindet folgt ästhetischen Gesetzen und konfrontiert uns mit dem, für das wir keine Lösung haben und dem, für das es keine Lösung gibt. Das ist zumindest ein Traum von Theater. Es soll den Widerspruch unserer Existenz zeigen, ohne ihn zu kitten. Es soll ihn bejahen.“ Und deswegen, wegen diesen unlösbaren Widersprüchen, wegen diesem Wissen über das letztendliche Scheitern unserer Kämpfe, ist die Lust zur Kunst und insbesondere die Lust zum Theater auch die Suche nach Trost. Trost als das am meisten uneingestandene Etwas, von all jenen Dingen, die der Mensch benötigt. Benötigt, weil er vermutlich das einzige Lebende ist, das von seiner Unfertigkeit, Unendlichkeit, von seiner Hässlichkeit und von seinem Tod weiß. Trost – und das ist der dritte Aspekt der Freiheit, die ich spüre, wenn ich Künstlern zusehe – Trost hilft uns, mit dieser Unfertigkeit umzugehen. Wir schauen auf die Bühne und sehen im Drama den Menschen, der seinem Schicksal gegenübertritt und unweigerlich scheitert, verliert. Aber und so schreibt Eugene O’Neill: „Erst durch diesen Kampf gewinnt das Leben des Einzelnen seine Bedeutung. Erst das Tragische macht unser Leben lebenswert.“ Diesen tragischen Helden bejubeln wir (wenn er gut spielt), weil er stellvertretend für uns diesen Kampf aufnimmt, den Kampf der Verwirklichung seiner / unserer Träume, die er /wir nie verwirklichen können, weil sie immer größer sein werden als unser /sein Vermögen. ER scheitert /stirbt für uns und spendet uns so Trost. Denn, so O’Neill „die Tragödie des Menschen ist vielleicht das einzig Bedeutende an ihm.“
Ideen und Themen nach / mit: Carl Hegemann, Die Freiheit vom Optimierungsdenken: Ein Plädoyer für das zweckfreie Theater und Christoph Menke, Kraft: Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie.