Laudatio auf Tobias Rausch von Hartmut Krug
Wer eine Arbeit von Tobias Rausch gesehen hat, der erkennt die nächsten noch lange nicht. Das gefällt mir sehr. In unserer Zeit, in der das Markentheater reüssiert und ein Stil als verwertbares Erkennungszeichen gepflegt wird, wirkt die frei forschende Theaterarbeit von Tobias Rausch ungemein anregend und lebendig.
Und wenn auch der Otto-Kasten-Preis an junge Theatermacher vergeben werden soll, der heutige Preisträger aber mit seinen nahezu 40 Lebensjahren nach den derzeit geltenden Theatermarktgesetzen schon fast ein älterer Herr ist, so beweist er sich in seinen Arbeiten doch stets als ungemein jung. Weil sie bestimmt sind von Neugier, Forschungslust, Nachdenklichkeit und der Suche nicht nur nach Antworten, sondern vor allem auch nach Fragen. Schließlich muss jemand, der unter anderem Philosophie und Biologie studiert hat, einfach immer auf der Suche sein.
So ist die Arbeit von Tobias Rausch auch nur schwer auf einen einzigen Begriff zu bringen. Er ist sowohl Regisseur wie Rechercheur, Autor wie Installateur, Einzelner wie Teil eines von ihm gegründeten Theaterkollektivs mit dem Namen „lunatiks produktion“, - und er arbeitet sowohl an Stadttheatern, in der Freien Szene und an theaterfernen, authentischen Orten. Seine Produktionen sind in der Regel Stückentwicklungen, das heißt: es sind immer Uraufführungen.
Das alles ist aber heutzutage nicht unüblich, oder, auf Neudeutsch: kein „Alleinstellungsmerkmal.“ Auch dass seine auf umfangreichen Recherchen und Interviews beruhenden Theaterprojekte als „alltagssoziologische Forschungsarbeit mit den Mitteln des Theaters“ bezeichnet werden, macht das Besondere seiner Arbeit nicht vollständig fassbar.
„Datenstrudel“, so heißt ein Regiedoppel, das bei einem Projekt von Tobias Rausch aktiv ist. Dieser Name aber hat mit seiner Art von Theater gerade nichts zu tun. Hier strudelt nichts, sondern hier wird stets ein Thema mit unterschiedlichen Texten aus oftmals verschiedenen Blickwinkeln so umspielt, dass eine manchmal komplizierte Materie am Schluss wunderbar klar und verständlich wirkt.
Dokumentartheater-Macher haben ja oft eine Botschaft, und da sie für diese viel Material gesammelt haben, geht der Zuschauer nicht selten nach einem Bombardement von Informationen mit dem Wunsch nach Hause, diese jetzt unbedingt noch einmal nachlesen zu müssen. Das passiert mir bei Tobias Rausch nicht. Bei ihm habe ich höchstens den Wunsch, weiter zu lesen. Und weiter nach zu denken. Zwar ist auch sein reflektierendes Dokumentartheater durchaus textlastig, und als Bildertheater kann man seine Arbeiten sicherlich nicht bezeichnen. Sie beruhen vor allem auf umfangreichen Recherche- und Interviewarbeiten, denen eine Verdichtung des authentischen Materials folgt. Bei ihm stehen nur ausnahmsweise die Zeitzeugen selbst auf der Bühne. In der Regel sind es Schauspieler, die die Texte der befragten Zeitzeugen vortragen. Es können aber auch einmal Jugendliche sein, wie in „Magic fonds“ am Deutschen Theater. Hier empfingen fünf Schweizer und sechs Deutsche die Zuschauer wie Kunden. Im Rechercheprojekt, das auf der Basis von über fünfzig Interviews mit Investmentbankern, Börsenpsychologen, ehemaligen Mitarbeitern der Europäischen Zentralbank und des Bundesfinanzministeriums und mit Kleinanlegern entstand, wurde
gefragt: Wo befindet sich mein Geld, wohin verschwindet es, nachdem es von meinem Konto in die globalen Finanzströme eingespeist wurde?
Anders als in Elfriede Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“, in dem die Autorin sich und das Geld allwissend in Wortkaskaden und Kalauern sprechen lässt, reden und fragen hier die am Geldhandel beteiligten Menschen. Die Inszenierung von Tobias Rausch besitzt eine spielerische Leichtigkeit und einen forschenden Charme, eine lustvolle Eleganz fern von der Ironie eines zuweilen besserwisserischen Regietheaters, die den Zuschauer sofort einbeziehen in die Such-, Recherche- und Erklärungsbewegungen des Projekts. „Magic Fonds“ nutzt die Taschenspieler- und ZaubereiMetapher, um von der Magie des Geldes zu erzählen und sich durch die Illusionen vom Geld und seiner Vermehrbarkeit zu spielen. Nur mit Pappkartons werden Orte bezeichnet und Situationen eingerichtet, wie auch in anderen Arbeiten von Rausch. Dass der Sparer selbst mit schuld ist an seinem Desaster, wird mit einem Anlagespiel mit den
Zuschauern und mit einer psychologischen Analyse des Homo oeconomicus belegt: Heute Nacht: Indien. Wieder vierundsiebzigtausend neue Kinder geboren. Die müssen essen. Also: es ist besser, Kartoffeln zu haben.
Das ist Psychologie. Verluste: Onanie. Also verkaufe ich … nicht. Ich behalte die Kartoffelaktien. Obwohl ich sage: das Geld. Aber weil ich sage: wird schon wieder. Jetzt nur ruhig bleiben. Denk an die Kinder in Indien. Und deswegen kommt es so oft, sehr oft jedenfalls, dass man sich wundert: Die Kartoffelaktie fällt und fällt, und trotzdem sagt die Nase im Fernsehen: Kartoffeln sind die Zukunft. Das kann doch nicht sein. Ist aber so. Deswegen bleiben sie alle auf ihren Kartoffelaktien sitzen.
Immer hat man hier den Eindruck, dass der Kalauer stimmt, der besagt: das Geld ist nicht weg, sondern nur woanders. Und zwar immer bei der Bank. Wie bei einem Bankencrash: da demonstriert ein Darsteller mit der wechselnden Menge einer Flüssigkeit im Glas, was ein Bankenschutzschirm und staatliche Hilfe bedeuten: am Ende steht der einzelne Sparer ohne einen Tropfen da. Zwar erfahren wir insgesamt nichts Neues, immerhin aber in komprimierter und spielerischer Form das, über das wir uns schon immer aufgeregt haben. Und auch wenn der Theaterabend, wie immer bei Rausch, keine Hochkunst sein will, ist er dabei doch höchst kunstvoll. Und er nimmt die behandelte Sache wichtig. Wie immer. Sein Themenspektrum ist weit. Ein paar Beispiele: In „Felix Krull und seine Erben“ wurden Hochstapler von heute befragt, denen es weniger um materielle Bereicherung als um die Annäherung des Selbst an eine ersehnte andere Identität geht. „Einsatz Spuren“ ließ auf kahler Bühne Soldaten in Afghanistan und ihre Angehörigen in Deutschland über den Krieg reflektieren. In „Westflug“ wurde am historischen Ort, im Flughafen Tempelhof, mit Texten von DDR-Bürgern, die nicht in Ostberlin, sondern in einer entführten Maschine unfreiwillig in Tempelhof gelandet waren, über Bleiben oder Zurückgehen in die DDR nachgedacht.
Als Spiel mit Fiktion und Realität kam dagegen „Manga! Das Reich der Zeichen“, daher, - natürlich in einem Büro am Kudamm. Und „Schicht C – Eine Stadt und die Energie“ erzählte von den Ereignissen 1978/79, als ein Schneesturm das Kernkraftwerk von Lubmin bei Greifswald von der Außenwelt abschloss. In den Texten erinnern sich Zeitzeugen mit den Erfahrungen von heute an damals. Geschichten verdichten sich zu reflektierter Geschichte, und dabei wird zugleich sehr schön deutlich, wie sich Menschen ganz unterschiedlich an gemeinsame einstige Erlebnisse erinnern. Auch das eine Qualität von Tobias Rauschs Arbeiten: sie montieren, wie vor allem auch in „Oder Bruch“, einem Stück über das Oderhochwasser, Recherche- und Interviewtexte bewusst so gegeneinander, dass unterschiedliche Ansichten und Erinnerungsweisen deutlich werden. Auch wenn Tobias Rauschs Inszenierungen durchaus keine Nummernrevuen sind, gibt es in ihnen immer wieder kleine Nummern, - das meint szenische Versinnlichungen abstrakter Vorgänge. Wenn in „Schicht C“ eine Entsatzschicht nach Lubmin zu fahren versucht, wird sie plötzlich zur Schülerschar, der historische Entwicklungsdaten abgefragt werden. Das Wort Graupelschnee treibt einen Darsteller in assoziative Wortfindungen, die mit dem Kollektiv, den Pionieren, mit Pittiplatsch und Subbotnik, mit dem Festival des politischen Liedes und mit dem Hinweis auf Devisen Zeitatmosphäre beschwören. So einfach wie einfallsreich aber sind die Szenen, in denen es um das Wesen von Kernkraft geht. Da erklärt ein Darsteller z.B. mit offiziellen Worten die Kernkraft, derweil ein anderer Kaffee kocht, wobei jede seiner Handlungen die Kernkraft-Erklärungen sowohl versinnlicht als auch ironisiert, bis der heiße, tropfende Filterbeutel dem offiziellen Erklärer in die Hand gedrückt wird, – der nun vergeblich versucht, die behauptete sichere Entsorgung zu bewerkstelligen. Was Tobias Rausch macht, ist etwas ganz anderes, weiter reichendes als Geschichtstheater. Es ist Menschenbefragungstheater, das Widersprüche und Brüche zulässt. Klar, dass z.B. in „Oder Bruch“ nicht etwa die dramatischen Ereignisse während des Oderhochwassers 1997 chronologisch nachgespielt oder nacherzählt werden, sondern dass in ein einer
Szenenfolge unsere Erinnerung an und unsere Wahrnehmung von diesem Ereignis befragt werden. So wird die Inszenierung zum Gespräch vor und mit dem Publikum. Die sechs Darsteller sprechen Texte von politischen und organisatorischen Machern, die sich zu Beginn der Flut fragen „Worauf lassen wir uns da jetzt ein.“ Die Unsicherheit, das Nichtwissen, das Lernen werden ausgestellt und die Empfindungen, Haltungen und Erinnerungsversuche befragt. Ein Theaterabend als Panorama unterschiedlicher Meinungen und Erfahrungen und als intime Situation.
Heimaterinnerungen werden ausgegraben: Es geht um Gerüche und Geräusche, um die Großeltern auf dem Bauernhof und Busfahrten zur Schule. Und immer ist da der Fluss. Die Schauspieler sprechen einzeln oder miteinander, fallen sich ins Wort, wechseln die Sprachformen und Sprechhaltungen und, mitten im Satz, auch mal ihre Sprechfigur. Sie reden sich gelegentlich mit ihren echten Vornamen an oder diskutieren über eine Szene, - mit dem Ergebnis, sie besser zu streichen. Kurzum: sie machen das Beste daraus, dass sie sehr viel zu erzählen haben. Wie von der Austauschschülerin für San Francisco, die Angst um ihr Visum hat, von dem Brautpaar, dessen Hochzeit auf dem Hof jetzt nicht möglich ist, vom ins Wasser rutschenden Friedhof im polnischen Rybnik mit seinen im Fluss schwimmenden Särgen und Leichenteilen, vom Durcheinander bei den Hilfskräften und dem Organisationschaos beim Technischen Hilfswerk, von einer nicht funktionierenden Sandsackbefüllmaschine und von den Evakuierungen, die Erinnerungen an Vertreibungen nach dem Kriege hochkommen lassen. Die große Hilfsbereitschaft aus dem Westen wird ebenso erwähnt wie der Streit um die Spenden und Entschädigungen. Die Aufführung bietet ein Sammelsurium von Berichten und Erinnerungen, die sich durchaus zu einem konsistenten Bild fügen. Dabei geht Tobias Rausch im steten Wechsel von Ernst und Komik, von Anekdotischem und Analytischem große Themen an. Gefragt wird, wer und wie man Augenzeuge ist, wie man sich wirklich richtig zu erinnern vermag, wie unser Verhältnis zur Natur ist, was geblieben ist von damaliger Solidarität. Es geht nicht nur um den Deichbruch, sondern um vielerlei Brüche. In Biographien, in Lebens- und gesellschaftlichen Verhältnissen.
Der Name Tobias Rausch steht für Gegenwartstheater. Auch da, wo Rausch historische Ereignisse befragt. Weil er sie für heute befragt. Er variiert seine szenischen Mittel einfallsreich, ohne dabei aber neue Ästhetiken zu entwickeln, entwickeln zu müssen. Eher findet er immer wieder neue Formen für die Befragung und Verdeutlichung von Wahrnehmungsweisen, denn Tobias Rausch macht Theater über Menschen. Allerdings heißt sein ehrgeizigstes Projekt „Die Welt ohne uns“, für das er kürzlich einen Preis bekam. Und dieses vom gleichnamigen Bestseller des Wissenschaftsjournalisten Alan Weismann angeregte Projekt am Schauspiel Hannover überschreitet nun wirklich auf ungewöhnliche Weise alle „normalen“ Theaterarbeitsformen. Es ist ein „Botanisches Langzeittheater“, das als achtteilige Serie von vielen Regisseuren in einem Zeitraum von fünf Jahren laufen soll. Indem es sich an der Entwicklungszeit der Natur orientiert, verwirft es alle Theaterspielregeln und Spielzeitbegrenzungen. Es zeigt eine Reise in die fiktive Zukunft unserer Erde, von der die Menschen verschwunden sind und Pflanzen seinen Lebensraum zurück erobern. Klar: wir sollen für die Umwelt sensibilisiert werden. In einem Bus geht es vom Theater zum Stadtrand, wo ein Theatercontainer am geheimen Ort im Wald als Spielort dient. Nur jeweils ein paar Dutzend Zuschauer können dem Geschehen hinter Glas zuschauen, und es gibt für jeden Teil der Serie auch nicht allzu viele Termine. Was ich darüber gelesen habe, klang zumindest nach schrägem Konzepttheater. Es gab Pflanzen beim Wachsen zu sehen. Dann wollte eine menschliche Leiche noch immer nicht verwesen, obwohl das Ende der Menschheit 80 Jahre zurücklag, und sprach zu den vierzig Zuschauern. Es gab mit dem unvermeidlichen Puppentheater Helmi und einem Gesangschor einen Kampf gegen den vergnügungssüchtigen Müll, - und schließlich werden in der nächsten Folge Affen die Herrschaft übernehmen. Die natürlich von Menschen gespielt und von anderen Regisseuren inszeniert werden.
Derweil studiert Tobias Rausch ein neues Stück ein. In Heidelberg. Das ist diesmal kein Text von ihm, sondern von Dirk Laucke, der in Ungarn über die dortige Situation der Roma recherchiert hat, und dem Tobias Rausch eine Bühnenform gibt.
Also wieder einmal eine „alltagssoziologische Forschungsarbeit mit den Mitteln des Theaters“. Denn letztlich verdeutlicht diese Formulierung am besten die besondere Qualität von Tobias Rauschs Arbeit. Die eine engagierte Forsch- und Fragearbeit ist. Immer anders in der Form, immer gleich im Anspruch: der, um zum Abschluss dann doch ein fast verpöntes Wort zu gebrauchen, ein unaufgeregt aufklärerischer ist.