„Was ist eigentlich Kulturpolitik?"
Impulsreferat - Senatorin Kisseler
Vor der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins
23. Mai 2013, Kiel
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Vorfeld der Vorbereitung auf die heutige Veranstaltung habe ich mich, wie schon öfter in den letzten 30 Jahren, gefragt:
„Was ist eigentlich Kulturpolitik?"
Und bin dabei - zum Glück - auf eine schöne, wie ich finde, sehr kluge, komprimierte Definition des Soziologen Dirk Baecker gestoßen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: „Kultur bewegt sich in einer Gesellschaft, in der es gleichzeitig vieles andere gibt. Das beruhigt, weil es die Kultur mit einer Identität versorgt, die sie aus dem Unterschied zu anderen bezieht. Es beunruhigt jedoch auch, da diese Identität auf einer Differenz beruht, die das Ausgeschlossene im Eingeschlossenen immer mitbewegt. Darauf, so darf man vermuten, reagiert die Kulturpolitik. Kulturpolitik ist Politik der Sorge um die inklusiven und die exklusiven Effekte von Kultur in einer Gesellschaft, die nicht nur Kultur ist. (. . .) Kulturpolitik inkludiert unter der Bedingung der Vernetzung des Inklusionsbereiches von Kultur mit dem Rest der Gesellschaft und sie exkludiert unter der Bedingung der Schaffung von Zugangsmöglichkeiten zum Inklusionsbereich. Das macht die Kulturpolitik zu einer paradoxen Aufgabe." (Baecker, „Wozu Theater?", S. 139).
Mit diesem letzten Satz war ich dann wieder in meinem normalen Alltag angekommen.
Denn - und auch das hat Dirk Baecker absolut zutreffend erkannt - im alltäglichen Wahnsinn der Kulturpolitik geht es primär um Budgets, um Verträge, um Programme und Standorte, letztlich um Macht. In den Debatten der letzten Jahre geht es aber zunehmend auch um das Theater nicht als moralische, sondern als soziale Anstalt. Natürlich glauben die meisten von uns immer noch an das Theater als Ort gesellschaftlich relevanter Reflexion, auch wenn es oft genug vom Mittelpunkt der Stadt an die Peripherie gerückt ist (was nicht räumlich gemeint ist). Aber im „bewusstlosen Fortschritt unserer Informationsgesell-schaft" - wie Carl Hegemann es mal so wunderbar formuliert hat, ist diese Institution vielleicht doch noch am ehesten die kulturelle Institution, in der es nicht primär um Shareholder value geht und in der Menschen mehr investieren als sie je zurückkriegen können. Vor dem Hintergrund genau dieses Selbstverständnisses sind sie natürlich prädestiniert als Anbieter und Vermittler kultureller Bildungsangebote.
Und, erlauben Sie mir diese pauschale Aussage:
Die meisten Theater machen ihre Sache sehr gut (nimmt man z.B. nur die großen Erfolge von TuSCH) ! Angesichts der völlig unterschiedlichen Partner - Künstler einerseits, Lehrer andererseits, von Schülern gar nicht zu reden - ist das alles andere als selbstverständlich. Allerdings bleibt aus meiner Sicht der Kulturpolitik eindeutig festzuhalten: Der Input von kultureller bzw. künstlerischer Seite, inhaltlich, organisatorisch wie finanziell, übersteigt den von schulischer Seite oft um ein Vielfaches.
Und da leuchtende Kinderaugen allein unseren Kennzahlen-Euphorikern in Ausschüssen und Verwaltungen nicht ausreichen, konkret messbare Erfolge kurzfristig zumindest eher schwerquantifiziert werden können, führt an einer deutlichen politischen Auseinandersetzung kein Weg vorbei. Wenn es nicht einfach um ein „institutionelles Weiterwurschteln", so Holger Noltze soeben in der „Süddeutschen Zeitung" -gehen soll, gilt es als erstes, funktionierende Bündnisse für Kultur zu schmieden, Allianzen und Partnerschaften mit Schulen ebenso wie mit Bildungsverwaltung oder auch Dritten (Stiftungen, Privatunternehmen) einzugehen, um konkrete Entscheidungen einzufordern. Für als gesellschaftlich notwendig erkannte zusätzliche Aufgaben wie eben die Vermittlung kultureller Bildung, muss man sich nicht nur über gemeinsame Ziele, Strategien etc. verständigen, sondern auch darüber, wer welche Kosten trägt. Worum es dabei keinesfalls gehen kann, ist Kunstförderung als Sozialförderung misszuverstehen. Dabei werden oft genug nur mediokre künstlerische Ergebnisse und unzulängliche Sozialarbeit erreicht. Und auch wenn ich gerne konzediere, dass auch wir unser Publikum von morgen suchen müssen, heißt das nicht, dass wir die originären Aufgaben von Schule einfach miterledigen. In der unvermeidbaren Auseinandersetzung dazu mit anderen Po-litikressorts, insbesondere dem Bildungs- bzw. Schulressort ist eine klare Linie seitens der Kulturpolitik nicht nur hilfreich, sondern eine conditio sine qua non.
Warum das so ist, möchte ich gerne versuchen, Ihnen zu erläutern.
Theater und Schule gelten oft als das Traumpaar kultureller Bildung - aber sie sind in der Realität auch ein Traumpaar der gegensätzlichen Partner. Oder, wie Wolfgang Schneider vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim zutreffend feststellt: „Sie sind Antipoden', sowohl im Hinblick auf die Strukturen wie auch im Hinblick auf die Arbeitsweisen. Hier die bürokratischen Zwänge der Institutionen, dort die Freiheit der Kunst, deren Protagonisten die pädagogische Instrumentalisierung meiden. Das Verhältnis von Künstlern zur Institution Schule ist daher nach wie vor sehr fragil und Theater immer noch nicht hinreichend in den schulischen Alltag integriert." Oder, wie es z.B. der Abschlussbericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommissionen zur „Kultur in Deutschland" festhielt: „Sonntagsreden und Alltagshandeln klaffen fast nirgendwo so eklatant auseinander wie in der kul-turellen Bildung. Führende Akteure aus allen Gesellschaftsbereichen zögern nicht, sich immer wieder zu der Bedeutung der kulturellen Bildung für den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt zu bekennen, konkrete Folgen für die Praxis der kulturellen Bildung bleiben hingegen immer noch zu häufig aus." (Schlussbericht vom 11.12.2007, 77) Also: Kultur macht alles - aber nicht stark? Die Kampagne, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung, untersetzt mit einem Volumen von 230 Mio. Euro auf den Weg gebracht, unterwirft Kultur, so zumindest ihre Kritiker, einer Ideologie der Nützlichkeit, sieht sie als eine „Maßnahme der Selbstoptimierung". Die totale Überfrachtung des Konstrukts der kulturellen Bildung hat schon mit dem soeben zitierten Bericht der EnqueteKommission begonnen; was sollte damit nicht alles Wundersames erreicht werden:
„Kulturelle Identitätsentwicklung, Förderung von kritischem Denken, Überprüfung alltäglicher Rezeptionsgewohnheiten, demokratische Wertevermittlung".
Aber, wie sagte schon Theodor W. Adorno; „Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur." Und weil auch das Medikament der kulturellen Bildung keinesfalls all die Krankheiten unseres Bildungssystems allein heilen kann, ist vielleicht ein wenig Gelassenheit an Stelle überzogener Heilserwartungen auf allen Seiten angebracht.
Im vergangenen Jahr hatte Hamburg, hatte der Schulsenator Ties Rabe die Präsidentschaft der KMK inne, was mir die willkommene Gelegenheit verschaffte, gemeinsam mit ihm das Thema „Kulturelle Bildung" in den Mittelpunkt zu stellen. Dadurch kam es zum ersten Mal seit Bestehen der KMK (seit den 1950er Jahren) zu einer gemeinsamen Sitzung des Kultur- und des Schulausschusses und zu einer Diskussion darüber, wie die geltenden Empfehlungen zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung wirksam weiterentwickelt werden könnten und gleichzeitig eine Art Zwischenbilanz der bisherigen Praxis zu ziehen. Und auf den ersten Blick könnte man meinen: Alles ist gut! Nicht zuletzt dank solch spektakulärer Projekte wie „Rhythm is it" oder dem von der Bundeskulturstiftung geförderten „Jeki" (Jedem Kind ein Instrument) oder „Kinder zum Olymp" der Kul-turstiftung der Länder (KSL) erfuhr die kulturelle Bildung eine immer noch andauernde Konjunkturphase. Allerdings muss man heute wohl eher von einem „erfolgreichen Misslingen" sprechen, wenn man das Fehlen einer verlässlichen Förderstruktur über Bund, Länder und Kommunen konstatiert, von der bitter notwendigen Verankerung der kulturellen Bildung als Querschnittsaufgabe über diverse Politikressorts hinweg ganz zu schweigen. Und weil bei der Fülle der Projekte der „Eigensinn der Künste" so gut wie keine Rolle spielt, ihr Eigenwert oft gar nicht gesehen, geschweige denn anerkannt wird, wächst der Legitimationsdruck auf kulturelle Bildung nur umso mehr. Oder, anders formuliert: Der Marketingerfolg hat die Sinnsucher längst überholt. Und während man inzwischen auch dem letzten Hinterbänkler eines Parlamentes nicht mehr erklären muss, dass „ein wenig Kultur Licht selbst in die düstersten Bildungsverliese trägt" (so Gerd Taube, Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der BRD und Vorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder-und Jugendbildung) und Politik sich endlich ein wenig entspannter zurücklehnen kann, weil durch das Breitbandantibiotikum „Kulturelle Bildung" Kindern und Jugendlichen endlich ein Mehr an gleichen Lebenschancen eingeräumt wird, sie endlich - noch dazu spielerisch - lernen, „mit gestärktem Selbstbewusstsein ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen" - ja, zur gleichen Zeit wird von teilweise denselben Politikern die Frage nach der Notwendigkeit der Förderung von Theater lauter denn je gestellt.
Eingebettet in den Kontext einer spezifischen gesellschaftlichen Verantwortung - (die Schuldenbremse gilt auch für Intendanten!) , konfrontiert mit Appellen an die Solidarität mit einer in der Tat mal wieder äußerst gefährdeten Freien Szene, scheint sich die Frage nach dem spezifischen Eigenwert von Kunst, Theater insbesondere, erübrigt zu haben.
Und in einer Stadt wie Hamburg, die allerdings eine durchaus respektable Theaterförderung leistet (Spielzeit 2012/2013: Hamburgische Staatsoper rund 47 Mio. €, DSH rund 21 Mio. €, Thalia Theater rund 19 Mio. €, Kampnagel (inkl. Tanzplan) rund 4,8 Mio. €) , muss man sich schon mal anhören: „Na ja, Frau Kisseler, das St.-Pauli-Theater (oder jedes andere Privattheater) haben auch ein volles Haus, ohne dass wir so viel öffentliches Geld wie bei Thalia, DSH oder der Staatsoper ausgeben!" Und da, glaube ich, ist es an der Zeit, dass - gerade durch die Fachpolitik - einmal unmissverständlich deutlich gemacht wird, worin der unverzichtbare Wert von Theater für unsere Gesellschaft besteht und weshalb ihre vermeintliche schöne Nutzlosigkeit tiefen Sinn in sich trägt.
Meine Damen und Herren,
es ist zehn Jahre her, dass der Bühnenverein dieses schöne kleine Büchlein „Muss Theater sein?" herausgegeben hat. Es gibt Augenblicke - wenn man z.B. aus einer Haushaltsausschuss-Sitzung kommt und wie nie zuvor die Notwendigkeit kultureller Bildung bestätigt sah - da tut ein Blick in dieses kleine Heft gut. Weil sich darin eine Haltung abbildet, die immer noch gültig ist und die sich in geradezu anrührender Form zuletzt in „Theater heute" (ja, ja, unser aller Leib- und Magenblatt) in der Neujahrs-ansprache von Susanne Schulz, Intendantin des kleinsten deutschen Stadttheaters, Naumburg, wiederfand. Die davon sprach, dass wir ein Theater liebendes, die Kultur schätzendes Gemeinwesen brauchen, das „die persönliche Einsatzbereitschaft der Theater für die Bildung seiner Landeskinder begrüßt". Was wir nicht brauchen, ist eine Vereinigung der „Kleinmütigen, der Krämer und Buchhalter." Kunst, meine Damen und Herren, muss nichts können, aber weil sie nichts muss, kann sie auch was - so nochmal Holger Noltze. Und wenn sie sich mit Bildung zusammentut, bin ich sicher, kann sie noch mehr. Ich glaube allerdings, es gibt noch viel zu tun für uns alle für die notwendige kultur- und bildungspolitische konzertierte Aktion. Oder, im Sinne von Walter Benjamin: „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist."