Hauptsache, es rockt
Ein Kommentar von Christine Dössel
Gut möglich, dass an der Berliner Volksbühne bald Koproduktionen zwischen Theater, Musik und bildender Kunst aufgeführt werden, kurz: Events. Damit ginge etwas verloren, worum die Welt deutsche Bühnen beneidet.
Angenommen, die Tate Modern in London (oder auch nur das Museum Folkwang in Essen) suchte einen neuen Direktor und als Kandidat kristallisierte sich der Theatermann Frank Castorf heraus - was wäre die Reaktion? Überflüssige Frage. Der Gedanke selbst ist so abwegig, dass man gar nicht weiter spekulieren muss.
Umgekehrt soll das jetzt aber funktionieren. Umgekehrt scheint das Theater eine viel leichter einzunehmende, da selbst etwas verunsicherte Bastion zu sein. Dass der Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner als Castorfs Nachfolger an der Volksbühne den Museumsmann Chris Dercon berufen will, den Direktor der Tate Modern, gilt manchen geradezu als Coup. Dercon hat zwar kaum Theatererfahrung, aber ein sagenumwobenes Telefonbuch. Die Kunstzeitschrift Monopol verweist darauf, wie sehr der "interdisziplinär begabte Retter" in München das Haus der Kunst "gerockt hat und jetzt die Tate rockt". Dercon, das ist Glamour, Marketing, Rock 'n' Roll. Dagegen werden die ollen Stadttheater als starre, von ruhestandsunwilligen Alphamännchen dominierte Trutzburgen hingestellt, die kuratorisch gerockt werden müssen. Woher diese Haltung? Es stimmt ja nicht, dass die Theater verkrustet sind. Schneller, beweglicher, eingriffsfreudiger ist derzeit keine andere Kunstform. Kaum ein Haus, das nicht guckkastensprengend und spartenübergreifend arbeiten, international kooperieren, experimentieren, sich politisch engagieren und weit in den Stadtraum und die Welt hinein öffnen würde. Die Struktur eines Ensemble- und Repertoiretheaters ermöglicht diese Flexibilität. Sie ermöglicht auch: Identität.
Eine einzigartige Kulturlandschaft wird leichtfertig aufs Spiel gesetzt
Einen Schnitt zu machen nach 25 Jahren Castorf an der Berliner Volksbühne ist verständlicherweise nicht leicht. Dass er progressiv sein soll und der neue Kulturstaatssekretär sich damit profilieren will: auch klar. Die Berufung Dercons jedoch wäre mehr als nur ein Intendanten-, sie wäre ein Paradigmenwechsel. Eine Weichenstellung in Richtung jenes neoliberalen, von Outsourcing-Strategien und Marktgängigkeit beherrschten Denkens, das allmählich auch in der Kunst obsiegt. Ein legendäres deutsches Ensembletheater würde umgewandelt in eine dieser international operierenden (Ko-)Produktions- und Gastspielstätten mit womöglich kleinem Kernensemble und großer Betätigungsfrequenz an den Schnittstellen zwischen Theater, Musik und bildender Kunst. Womit dann an der Volksbühne ungefähr das geboten würde, was es im Kleinen auch am Berliner HAU gibt und in jährlicher Bündelung bei den Berliner Festivals "Tanz im August" und "Foreign Affairs". Mit dem Unterschied, dass die Volksbühne vielleicht gewisse Künstler aus dem Ausland als Artists-in-residence ans Haus binden und deren Arbeiten selber produzieren würde - bevor sie sie auf Reisen schickt, hinaus in den internationalen Festival und Eventzirkus, der sich aus solchen Produktionen speist. Was dafür fahrlässig aufs Spiel gesetzt wird, ist die einzigartige Struktur des deutschen Theaters. Etwas, worum die Welt uns beneidet: die Möglichkeit einer sicheren, kontinuierlichen Arbeit in einem festen Ensemble. Die Möglichkeit des gemeinsamen Ausprobierens und Scheiterns, des Wachsens und Werdens. Die Möglichkeit, überhaupt etwas so künstlerisch Epochales wie die Castorf-Ära an der Volksbühne zu erschaffen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, nicht im Sinne bloßer Besitzstandswahrung, sondern um eine ohnehin bedrohte Kulturlandschaft zu beschützen. Schlimmstenfalls sind die Theater erst der Anfang. Wer weiß, wen es als Nächstes trifft.