Empörung und Verunsicherung
In Ungarn tobt ein Kulturkampf: Zwei Rechtsextreme an der Theaterspitze in Budapest, radikale Kürzungen und eine permanente Verunsicherung
Auf der Prager Quadriennale im Juni gab es eine begehbare Installation aus Ungarn, die von außen wie ein unscheinbarer Container aus Sperrholz aussah. Darin waren Video-Projektionen von bedeutenden Inszenierungen der letzten Jahre zu sehen, auf einer schwarzen Wasserfläche in einem abgedunkelten Kabinett. Man war zwar ausdrücklich dazu eingeladen, doch betrat man das flache Bassin auch nur vorsichtig, verschwamm das Bild und brach. Der ungarische Pavillion war dem Bühnenbildner Mihaly W. Bodza gewidmet, der nach seiner Ausbildung mit allen wichtigen Regisseuren wie Tamás Ascher, Árpad Schilling und Viktor Bodó arbeitete und nun offiziell als vermisst gilt. Doch diesen noch jungen Bodza gibt es gar nicht, er war in Prag ein Symbol für das von der rechtskonservativen Fidesz-Regierung in Frage gestellte gesellschaftskritische Theater, das nun zu verschwinden droht.
Als das ungarische Theaterinstitut auf diese Weise auf die Situation des Theaters hinwies, hatte Ungarn noch einen Monat lang die EU-Ratspräsidentschaft inne. Eine Theorie dazu lautete, dass die Regierungspartei sich bis zu deren Ablauf zurückhalten würde, dann, ab Juli, gehe der Fidesz-gerechte Umbau von Staat und Gesellschaft unter der Führung von Ministerpräsident Viktor Orbán unverzüglich weiter. Ein zu Anfang des Jahres in Kraft getretenes Mediengesetz hatte europaweit Kritik herausgefordert, die die Regierung zu beschwichtigenden Erklärungen nötigte. Ab Juli, so die Theorie, würde die Aufmerksamkeit für das Land abebben und kontroverse Maßnahmen wären ohne internationale Öffentlichkeit leichter durchzusetzen. Man muss leider sagen, dass die pessimistischen Anhänger dieser Theorie in vollem Umfang Recht behalten haben. Dem auf Kontrolle der Nachrichten zielenden Mediengesetz folgten nun Massenentlassungen beim öffentlichen Rundfunk und Fernsehen, und der Personalwechsel an den Spitzen der Theater, der bis dahin als parteigebundene Postenvergabe auf die so genannte Provinz beschränkt war, hat jetzt die Hauptstadt erreicht. Die Budapester Theaterszene ist nicht nur empört, sie muss auch das Schlimmste für die Zukunft befürchten.
Mitte Oktober wurden vom Budapester Bürgermeister István Tarlós zum Februar 2012 zwei bekannte Rechtsextreme an die Spitze des Új Szinház (Neues Theater) berufen. Der Schauspieler György Dörner und der Autor István Csurka, der vor vierzig Jahren mal zu den wichtigen Dramatikern seines Landes gehörte, haben ihre Haltung in der Bewerbung und nach der Berufung ganz offen kundgetan. Dieses Theater gehört zwar nicht zur ersten Liga der Hauptstadtbühnen, aber der Vorgang kommt einem Dammbruch gleich und steht dabei auch in Zusammenhang mit der insgesamt seit Frühjahr 2010 herrschenden Atmosphäre, als die Fidesz-Partei mit großer Mehrheit die Wahl gewann und dazu noch die rechtsextreme Jobbik-Partei mit ins Parlament einzog, die als Opposition bei Themen wie Minderheiten und Mehrheitskultur noch weiter rechts Akzente setzen kann. Die Regierung richtet zum einen auf Symbolpolitik aus, mit der ein rechtschaffenes Ungarntum ins Licht nationaler Würde gerückt werden soll: So wurde zum Beispiel der Budapester Flughafen Ferihegy in Liszt Ferenc International umbenannt. Na und, könnte man sagen, das ist in anderen Ländern auch so. Zum anderen sind aber solche Maßnahmen in einen regelrechten Kulturkampf eingebunden, der sich offen gegen die Tradition der linksliberalen demokratischen Kultur richtet, deren Repräsentanten eben nicht in angemessener Weise den nationalen Interessen gedient hätten und deshalb ersetzt werden müssten.
In diesem Kontext ist die Absichtserklärung Csurkas zu verstehen, das Neue Theater sei das Nationaltheater – als ob es nicht bereits ein solches geben würde. Außerdem sprach er vom „Hinterlandtheater“ (auch als Heimatfronttheater zu verstehen), das sich ausdrücklich an alle im benachbarten Ausland lebenden Ungarn wendet (was niemand bestritten hätte, hier aber den Beiklang von einem Ungarn in den Grenzen vor 1918 hat) und gewissermaßen die Aufgaben eines kleineren Budapester Stadttheaters auf die historische Mission gegen die für Ungarn gewiss bitteren Folgen des Ersten Weltkriegs aufbläht. Zu den dreisten Provokationen Csurkas gehört noch, dass man in seinem Theater das mitgeführte Schwert an der Garderobe abgeben könnte, denn ein solches brauche man schon, wenn man in der nahegelegenen Dohány-Straße parke –
bekannt als Straße am ehemaligen jüdischen Viertel und Adresse einer großen Synagoge. Es geht in diesem Fall nicht nur um zwei Radaubrüder als Theaterintendanten und auch nicht um eine schwer zu durchschauende Auseinandersetzung zwischen dem Regierungschef und dem Hauptstadtbürgermeister, der Orbán empfindlich provoziert haben dürfte. Denn wenn die Fidesz-Politik in Sachen Kultur auf ein diffuses Magyarentum gerichtet ist – mal abgesehen von der Neuverteilung der Pfründe in der Provinz – so ist sie nun in der Hauptstadt auf dem Gebiet des Theaters durch diese Rechtsaußenfiguren zu deutlicheren Bekenntnissen gedrängt, dieser Richtung nicht länger vorzuarbeiten und einen anderen, moderateren Weg einzuschlagen. Insofern hat der Skandal vielleicht doch eine positive Impulswirkung, denn zum ersten Mal gibt es so etwas wie Einigkeit und Solidarität unter den Theaterleuten. Beide Theaterverbände – bezeichnenderweise existieren ein rechter und ein linker – haben die Berufung verurteilt.
Csurkas Anmaßung eines neuen Nationaltheaters hat freilich ein längeres Vorspiel. Das Nationaltheater im Süden der Donaustadt ist seit langem Gegenstand von Auseinandersetzungen und vor allem Anfeindungen von rechts. Der Intendant Róbert Alföldi wurde für dessen auch international beachtete Spielplan-Erneuerung mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Er hat Stücke von Botho Strauss und Martin Sperr erstaufgeführt und hält Taboris „Mein Kampf“ im Spielplan. Doch auch der wiederholt vorgebrachte Vorwurf, das Nationaltheater habe zuvörderst ungarischen Autoren offenzustehen, ist nicht zu begründen, denn Alföldi hat eine ganze Saison lang nur Neuproduktionen von ungarischen Autoren geboten. Er kann als eine Art Symbolfigur der linksliberalen Tradition gesehen werden, aber bislang wurde er nicht – wie von vielen lange erwartet – vorzeitig abberufen. Man ließ ihn wissen, sein Vertrag werde bis 2013 respektiert.
Mit Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“ hat der durchaus auch an Polemik interessierte Regisseur Anfang des Jahres ein Stück gewählt, das man nicht extra ins Heute übersetzen muss. Mit seinem repressiven Milieu einer auf Abweichungen fixierten Dorfgemeinschaft weist es ebenso auf die vom großen Wandel abgehängten Provinzen wie zugleich auch auf eine sich abschottende, vergangenheitstraumatisierte Gesellschaft hin. In dem bunkerartigen Werkstattraum des Theaters sitzt das Publikum gleichsam als Teil der Dorfgemeinschaft mittendrin auf Säcken und richtet den Blick rundum auf eine Fleischerküche, eine improvisierte Grillbude und ein halbes Wohnzimmer der ärmlichsten Art. Alles ist Spielraum von Bedeutung also, und die vollkommen altdörflich authentisch wirkende Piroska Molnár als Barbara, deren homosexueller Sohn Abram (András Stohl) zur Strecke gebracht wird, lässt in diesem Raumtheater beinahe alle Theaterdistanz verschwinden. DerClou ist freilich das schreckliche Finale: Das Stücks endet mit einer launigen Rede des Bürgermeisters, alles sei wieder gut, und mit einer Blaskapelle, Bier und den im Stück zu Frikadellen verarbeiteten Fleischbatzen. Nun können alle bei der Wiederherstellung der stabilen Gemeinschaft mitmachen.
Sicherlich könnte man diskutieren, welche Verhältnisse Alföldi damit meint, aber auf solche Feinheiten lassen sich seine Gegner kaum ein, denn es geht ja gegen eine ganze Richtung und eine Tradition, die es als „entartete liberale Hegemonie“ zu brechen gilt. Einerseits werden die Anfeindungen und Pöbeleien gegen seine Arbeit mehr oder weniger toleriert, andererseits torpediert das Kulturministerium als Amtsherr den Intendanten immer wieder mit empfindlichen Budgetkürzungen und darauf folgenden Nachberechnungen (in Ungarn erfolgt die Finanzierung der Theater nach einem sehr komplizierten System). Derzeit ist von etwa 27 Prozent Kürzung die Rede, beim gleichermaßen renommierten Katona-Theater sind es 20 Prozent. Einschneidend sind auch die Kürzungen in der Freien Szene, wo Regisseure mit eigenen freien Gruppen wie Árpád Schilling, Béla Pintér, Viktor Bodó, Zoltán Balázs und zuletzt Kornél Mundruczó europaweit ein neues ungarisches Theater mit der ästhetischen Verarbeitung seiner inhaltlichen Probleme, und mit innovativer Selbstorganisation erkennen ließen. Ivan Nagel, der in Ungarn geborene Theaterphilosoph, sah in diesen modernen Vagabunden sogar die Zukunft des Theaters, weil sie sich auf die neuen Produktionsformen von Kultur eingestellt hätten, das freie, aber ungesicherte Theater mit dem subventionierten Stadttheater zu verbinden. Das Budapester TRAFO (als Ort für Performance, Musik und Tanz in etwa dem Berliner HAU vergleichbar) ist immer wieder als Ganzes bedroht. Andere Sparfolgen sind nicht gleich sichtbar. Die Förderung neuer Dramatik und der Übersetzung von ausländischen Stücken etwa hat einen Tiefststand erreicht, Forschungsstipendien werden ebenso zusammengestrichen.
Wenn man an dieser Kulturpolitik überhaupt etwas erkennen kann, so ist es das Prinzip der permanenten Verunsicherung. Wer sich diese zunutze machen wird, das kann man heute noch nicht sagen. Der Aufstand gegen ganz rechts könnte durchaus auch der Fidesz-Regierung mit ihrem Umbauprogramm entgegenschlagen. Denn eins ist klar: Hier fällt eine gesellschaftliche Krise mit der ökonomischen Krise zusammen. Wenn das Theater davon nicht zerstört wird, was durchaus möglich scheint, kann es seine Rolle als Schauplatz von Konflikten um einiges stärker denn je einbringen. Und dann wird dieser vermisste Bühnenbildner der Prager Quadriennale sogar gefeiert werden.
THOMAS IRMER