Was soll Kulturpolitik?

Armin Nassehi
(Kurzfassung des Vortrages am 23. Mai 2013 bei der Jahreshauptversammlung des deutschen Bühnenvereins in Kiel)

Warum sollen Kunst und Kultur aus öffentlichen Geldern gefördert werden? Um welcher Art Ware handelt es sich bei Theater-, Musik-, Opernaufführungen, dass sie sich nicht wie andere Güter auch durch Preisbildung auf Märkten konsumier-bar machen? Oder anders gefragt: Warum kann Kunst und Kultur, so weit sie nicht einem Massengeschmack entspricht, nicht kostendeckend wirtschaften? Schon die Frage enthält die Antwort. Marktgängig sind diejenigen Formate, die sich auf Märkten bewegen, die hohe Absatzzahlen ermöglichen. Man müsste sich den Preis eines handelsüblichen Automobils, das in der Massenfertigung für 25.000 € angeboten wird, vorstellen, wenn es im Handwerks- oder Manufaktur-modus als Einzelstück hergestellt werden müsste. Ein solches Automobil wäre jener Zielgruppe, die Automobile sonst für etwa 25.000 € erwirbt, nicht mehr zu-gänglich, weil sein Preis ein Vielfaches betragen würde. Märkte leben also vom Geheimnis der großen Zahl und der automatisierten Serienherstellung – und das gilt nicht nur für industriell gefertigte Güter wie Automobile, sondern auch für kulturelle Erzeugnisse. Je kompatibler diese Güter mit einem auf große Absatz-zahlen zielendes Publikum sind, desto eher können sie sich ökonomisch selbst tragen – und wenn es nicht das Produkt selbst ist, dann ist es der durch Werbung finanzierte Kontext, in dem diese von dem kulturellen Erzeugnis profitiert. Die Diskussionen um die Privatisierung von Rundfunk und Fernsehen dokumentieren diesen Zusammenhang recht deutlich – mit dem Effekt übrigens, dass die ökono-mischen Erfolgsparameter auf die Anbieter öffentlich-rechtlicher Rundfunkfor-mate zurückwirken und damit die Legitimation öffentlicher bzw. durch steuer-ähnliche Abgaben finanzierter Formate in Frage stellen.

Kunst und Kultur, insbesondere das, was man bis vor kurzem noch mit dem in-zwischen eher umstrittenen Begriff der Hochkultur belegen konnte, kann sich rein marktförmigen Mechanismen nicht aussetzen, ohne zu verschwinden oder Schaden zu nehmen – womit übrigens keinerlei naive Ökonomie-Kritik verbun-den ist. Man muss also über Kunst und Kultur reden und das Engagement der öf-fentlichen Hand legitimieren. Dem geübten Beobachter fällt dann sofort die be-kannte Sentenz von Theodor W. Adorno ein, über Kultur zu reden sei immer wi-der die Kultur gewesen. Liest man den in diesem Feld unübertroffenen Stich-wortgeber Adorno nicht nur als Stichwortgeber, sondern gewissermaßen wissenssoziologisch als Symptom, dann drückt sich in dieser Sentenz die ganze Spannung dessen aus, worum es hier geht: Eigentlich muss man über die Kultur reden – aber sobald man es tut, geht womöglich das verloren, worum es ihr geht. Einen solchen Satz könnte man als Hochnäsigkeit eines Kulturphilosophen abtun, dessen Kritik an der bürgerlichen Kultur tief verwurzelt war in der sehr bürgerli-chen Hoffnung auf die Kunst als befreiendem Erkenntnismittel. Recht gegeben wird einem solchen Statement freilich damit, wie nun über Kultur geredet wird.

Es entsteht ein Legitimationsproblem – und darauf reagiert man mit Legitimatio-nen, nachholenden und vorauseilenden. Zu letzteren gehört etwa die Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Kultur macht stark“. Diese Initiative, die durchaus namhafte Mittel bereitstellt, gehört eindeutig in die Kate-gorie „gut gemeint, aber ...“ Gut gemeint ist der Wert, der der Kultur und der kul-turellen Bildung hier gewissermaßen regierungsamtlich zugesprochen wird, völ-lig verfehlt dagegen ist die Instrumentalisierung von Kunst und Kultur als eine Art Wellness- und Enhancement-Programm. Das Schlimme ist: Das Argument stimmt sogar ansatzweise – aber nicht in dieser utilitaristischen Form. Kunst und Kultur lassen sich nicht als Trainingsprogramm einsetzen, um uns stark zu ma-chen, auch wenn Kunst und Kultur durchaus in diesem Sinne so etwas wie ein Trainingsprogramm für die Erzeugung von Blicken, von neuen Perspektiven ist. Der Denkfehler der ministeriellen Kultur- und Bildungspolitiker ist womöglich – ich bitte um Verzeihung für diese Hochnäsigkeit – ein Bildungsproblem. Es macht nämlich einen erheblichen Unterschied aus, ob man über die Funktion von Kunst und Kultur für die moderne Gesellschaft spricht oder über die instrumentalisierbare Leistung der Kulturproduktion für den Produzenten oder Rezipienten. Es geht um den Eigensinn von Kunst und Kultur – der sich sogar manchmal gegen die eigenen Produzenten richtet. Die Funktion von Kunst und Kultur besteht wohl darin, anders als andere Verdoppelungen der Welt (in der Politik durch Entscheidungsmacht, in der Wirtschaft durch Geld, in der Wissen-schaft durch methodisch kontrollierte Verdoppelung der Realität) dieses Geschäft der Verdoppelung von etwas als mögliche Realität nicht unsichtbar zu machen, sondern eigens zu thematisieren. Das ist ein abstraktes Argument und kann hier nicht in Gänze entfaltet werden.1 Es soll aber darauf hinweisen, dass Kunst und Kultur einen Eigensinn entfaltet, der sich praktisch ereignen muss und nicht in-strumentell genutzt werden kann. Das Tragische an einer Initiative wie der des BMBF liegt tatsächlich darin, dass sie an der richtigen Stelle ansetzt, und am Ende doch konzeptionell scheitern muss. In der Tat, Adorno hatte prinzipiell recht: Über Kultur zu reden war immer wider die Kultur.

Aber diese Klage hilft nicht, denn die Funktion des Politischen erfordert es eben zwingend, dass Legitimationsprobleme gelöst werden. Ausgaben für Kunst und Kultur müssen gerechtfertigt werden – vielleicht nicht prinzipiell, sondern v.a. im Hinblick auf die Auswahl, was zu einer kaum auflösbaren Verwicklung zwischen der Logik des Politischen und dem Eigensinn von Kunst und Kultur führt. Erstere muss sich vor einem Publikum demokratisch rechtfertigen, das insbesondere auf kollektiven Interessenausgleich zielt. Politik tendiert mit all den Versprechungen der Moderne hin zu symmetrisierenden Argumenten. Auch dazu gibt es ein böses Adorno-Bild: Kultur schlage alles mit Ähnlichkeit – Adorno hatte das auf die Kul-turindustrie gemünzt, aber es weist eben auch auf die symmetrisierende Funkti-on des Politischen hin. Worüber Kulturschaffende exakt wegen der Symmetrie-erwartung ungern sprechen, ist aber dies: Kunst und Kultur leben von der Asymmetrie. Es geht um das Bessere und das Schlechtere. Es geht um Formen, die sich nicht legitimieren müssen. Es geht um Ungleichheit. Kunst ist zudem tenden-ziell antidemokratisch, denn hier lässt sich die Logik des Mehrheitsprinzips gera-de nicht anwenden. Was gute Kunst und Kultur ist, wird selbstreferentiell er-zeugt, nicht durch Abstimmungen. Das heißt nicht, dass Kunst und Kultur egal ist, ob sie ankommt, ob sie gesehen, rezipiert, geschätzt wird. Aber das wird stets ei-ne kleinere Anzahl von Adressaten finden als die demokratisierbare Form des Massengeschmacks. Wer über Kunst und Kultur spricht und über kulturpolitische Strategien, muss nolens volens eben doch über Hochkultur sprechen, so unkor-rekt das auch immer sein mag. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, das ohne die bürgerliche Haltung des Ressentiments nach unten (sic!) und ohne die Hochnä-sigkeit arkandisziplinärer Exklusivität zu tun. Ich möchte das im Folgenden mit einem historischen Blick in die bürgerliche Gesellschaft versuchen.

Dieser historische Blick verweist auf die Unterscheidung von Repräsentation und Repräsentativität. Die besondere Konstellation in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft bestand darin, dass Repräsentation und Repräsentativität letztlich ineins fielen. Einer der wichtigsten Grundkonflikte in der öffentlichen Diskussion um die Finanzierung von Kunst und Kultur besteht ja nicht nur in der Frage der Höhe von Fördersummen. Konfliktuös ist insbesondere die Frage, ob und inwie-fern bei der Förderung von Kunst und Kultur durch öffentliche Gelader eine gewis-se Repräsentativität gewahrt bleibt, ob also mit der Förderung von Hochkultur nicht nur ein Teil der Bevölkerung als Nutznießer gelten kann. Dies ist im Hin-blick auf die soziodemografische Zusammensetzung von Nutzern hochkultureller Angebote ohne Zweifel der Fall. In der bürgerlichen Gesellschaft ist dieses Miss-verhältnis deshalb nicht aufgefallen, weil es mit der Etablierung von Hochkultur-institutionen gelungen ist, das Ganze zu repräsentieren, obwohl es nicht reprä-sentativ für das Ganze ist. Das lag vor allem daran, dass es gerade Kunst und Kul-tur waren, die so etwas wie einen legitimen Geschmack präsentieren konnten, der in einer dann aufstiegsorientierten Gesellschaft seine Autorität vor allem da-durch pflegen konnte, weil diese Art kultureller und künstlerischer Ausdrucks-formen wenn nicht repräsentativ im quantitativen Sinne, so doch repräsentativ für den einzig legitimen Geschmack sein konnte, zu dem diejenigen streben oder zu streben haben, die sozialen Aufstieg erwarten. Die bürgerliche Hochkultur stach nicht durch Repräsentativität, aber durch die Fähigkeit der Repräsentation. Damit waren Kunst und Kultur sowohl verbindend als auch distinktiv wirksam – verbindend in dem Sinne, dass in ihr die Kollektivität einer durch bürgerliche Schichten repräsentierte Gesellschaft ästhetisch imaginiert werden konnte, dis-tinktiv, weil damit sehr deutlich gemacht werden konnte, wo der Ort der Kultur war und wer die Trägergruppe des legitimen Geschmacks war.

Das ist heute nicht mehr der Fall – kurz formuliert liegt das zum einen an einer völlig diversifizierten Kulturindustrie, in der insbesondere eine völlig veränderte Medienlandschaft eine entscheidende Rolle spielt. Zum anderen ist Ungleichheit und Asymmetrie nicht mehr mit Selbstbewusstsein vermittelbar. Gegen die bür-gerliche Hochkultur – die ja nicht mehr in dem klassischen Sinne bürgerlich ist, aber durchaus soziodemografisch an eher wohlhabenden und bildungsnahen Be-völkerungsgruppen gebaut – spricht dann, dass etwa die Sozialfigur des akade-misch nicht gebildeten und ökonomisch eher nicht privilegierten Migrantenkindes zu den wohl unwahrscheinlichsten Besuchern von hochkultu-rellen Veranstaltungen zu zählen ist – ähnlich der Sozialfigur des katholischen Mädchens vom Lande in den 1960er Jahren, mit dem man die größte Distanz zum Bildungssystem imaginieren konnte. Es geht also darum, ob mit Steuergeldern von Personengruppen, die kaum Nutznießer von Hochkultur werden, diese finan-ziert werden soll. Besonders stark übrigens werden solche Argumente interes-santerweise von solchen Sprechern formuliert, die selbst Nutznießer jener Bil-dungsexpansion waren, denen seit den 1970er Jahren mit den Steuergeldern von Nicht-Akademikern akademische Ausbildungen finanziert wurden. Man nehme dieses Argument nicht als Polemik, sondern als empirische Beschreibung.
In einer postbürgerlichen Gesellschaft werden solche Asymmetrien sichtbar – und die Paradoxie der Kulturpolitik besteht darin, dass sie solche Asymmetrien vertreten muss, um Hochkultur fördern zu können. Aus dieser Paradoxie gibt es kein Entrinnen, und das Argumentieren wird nicht dadurch erleichtert, dass man auf den besonderen Wert der Hochkultur mit ästhetischen oder soziologisch-funktionalistischen Argumenten über die Bedeutung der Kunst verweist, denn das macht die Asymmetrien nur noch sichtbarer – aus einem ganz schlichten Grund übrigens: weil sie da sind.
Aber vielleicht muss man es sichtbar machen – ohne den Phantomschmerz über die alte bürgerliche Gesellschaft allzusehr zu pflegen (und ernsthafterweise kann man die ästhetische Enge dessen, was dort als Hochkultur galt, nicht wirklich zu-rück wollen). Im übrigen lebt die Inititiative „Kultur macht stark“ womöglich stärker von diesem Phantomschmerz, als man zunächst denkt. Denn obwohl sie das Verbindende betont, und das zu Recht, ist sie doch auch uneingestanden dis-tinktiv, indem sie denkt, die bürgerliche Kulturpraxis technologisch für sozialen Aufstieg einsetzen zu können. Man kann und man muss das kritisieren – aber auch selbstkritisch fragen: Was soll einer solchen Initiative anderes übrig blei-ben?

Der Legitimationsdiskurs, in den hochkulturelle Anbieter mit Recht verstrickt werden, muss als Herausforderung angenommen werden – wie gesagt, ohne Phantomschmerz. Sicher ist dies eine Herausforderung für Formate, Orte und für die Gewinnung neuer Zielgruppen – all das geschieht ja und wird vielfältig ge-pflegt. Nur dass man mit Hochkultur die allgemeinen Symmetrieversprechen be-dienen kann, die die Leute erwarten, diese Hoffnung muss man fahren lassen. Vielleicht reicht bisweilen schon der Hinweis darauf, dass auch in anderen Berei-chen der Gesellschaft (Chancengleichheit im Bildungswesen und im Beruf, Steu-ergerechtigkeit, Religionsfreiheit etc.) Symmetrie vor allem ein Versprechen ist, das keineswegs erfüllt wird. Womöglich haben Kunst und Kultur den Vorteil, noch etwas Positives aus der Asymmetrie zu machen. Und wenn das ohne die Hochnäsigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gelingt, ist einiges gewonnen.