Warum Kanon? Wozu Kanon?

Herfried Münkler
(Nürnberg 16.01.2012)

Jedem Kanon haftet etwas zutiefst Konservatives, ja geradezu Anti-Innovatives an: Ewig dasselbe. Obendrein findet sich im Kanon fast immer nur das Bildungsgut einer bestimmten sozialen Schicht, jener bildungsbürgerlichen oder zumindest bildungsbürgerlich beeinflussten Kreise, die angesichts der Dynamik, mit der sich die soziale und wirtschaftliche Welt verändert, wenigstens im kulturellen Bereich das Alte festgehalten und nichts verändert wissen wollen. Marx’ Diagnose aus dem Kommunistischen Manifest, wonach seit der bürgerlichen Revolution „alles Heilige verdampft“, betrifft auch den Kanon der Literatur und des Theaters, aber das Bürgertum weigert sich in seiner Insistenz auf dem Kanonischen dagegen und tut so, als ob es dieses „Heilige“ weiterhin gebe. Diese Sicht auf den Kanon lässt sich wie folgt zusammenfassen: der Kanon ist in der Moderne zu einem Selbstwiderspruch geworden, der vergeblich versucht, die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Welt auszugleichen. Also soll er verschwinden. Die Gegenthese dazu lautet im Anschluss an eine Formulierung des Politikwissenschaftlers Karl Deutsch: Ein Auto kann umso schneller fahren, je bessere Bremsen es hat. Der Kanon kompensiert danach die beschleunigten Veränderungen und gibt kulturellen Halt in einer sich soziopolitisch permanent verändernden Welt. Der Kanon gibt Sicherheit und vermittelt Gewissheit gerade dort, wo vieles andere unsicher und ungewiss geworden ist. Gerade Marx, um bei ihm zu bleiben, war in Fragen von Kultur und Bildung kein Progressist; in seinem Kanon spielten die griechischen Tragiker von Aischylos bis Euripides sowie Shakespeare und Goethe die zentrale Rolle. Das Kompensationstheorem bezweifelt, dass die Annahmen einer allumfassenden Linearität der Geschichte zwingend und vor allem, dass sie den menschlichen Bedürfnissen angemessen sind. Der Literatur- und Kunstkanon erst versetzt uns in die Lage, den dramatischen Wandel in der uns umgebenden Welt auszuhalten. Der Kanon ist ein Faktor der Entschleunigung in einer sich permanent beschleunigenden Welt.

Die Identität der Gesellschaft
Der Bildungskanon einer Gesellschaft sichert deren Identität, ihre Wiedererkennbarkeit bei der Rückkehr aus der Fremde und der Heimkehr nach langer Zeit. Identität ist das uns Vertraute. Sie gibt Sicherheit und Gewissheit. In den Theorien des kollektiven Gedächtnisses, die in den letzten zwei Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften Karriere gemacht haben, gibt es die zentrale Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Ersteres wurzelt in gemeinsamer Zeitgenossenschaft, letzteres im Kanon des gemeinsamen Wissens. Der Kanon des Wissens, der Literatur und also auch des Theaters ist ein zentrales Element des kollektiven Gedächtnisses. Er ist ein Anker unserer Erinnerung, nicht bloß der individuellen, sondern auch der kollektiven.

Man kann zwischen heißen und kalten Erinnerungen unterscheiden, auch und gerade in Bezug auf die Gesellschaft und ihr Selbstverständnis. Im ersten Fall geht es zumeist um die dynamische Zerstörung kanonischen Wissens, aber diese Zerstörung des alten Kanons ist mit der Installierung eines Gegenkanons verbunden. Die revolutionäre Elite, die die Macht übernommen hat, sichert sie durch die Durchsetzung eines neuen Bildungskanons ab, und dadurch will sie ein neues kollektives Gedächtnis schaffen. Der Kampf um die Macht ist immer auch ein Kampf um das kollektive Gedächtnis und den dafür zentralen Kanon des Wissens. Im Fall der kalten Erinnerung gibt es dagegen eine hohe Persistenz kanonisierter Traditionalität. Beide Typen wechseln sich im Verlauf der Geschichte immer wieder ab, und in der Regel lassen sich Hybridbildungen beobachten, in denen Beharrung und Veränderung miteinander verbunden sind. Aber es geht dabei nicht um Entkanonisierung, sondern um die Bewahrung oder Veränderung der jeweiligen Inhalte des Kanons. Konservative und Progressive haben unterschiedliche Vorstellungen von der Identität der Gesellschaft und dementsprechend hantieren sie mit unterschiedlichen Kanons. Jeder Kanon verändert sich mit der Zeit. Neue Herausforderungen werden in ihm reflektiert, alte verlieren an Relevanz und verschwinden allmählich aus dem Kanon. 

Der Verzicht auf den Kanon, jeglichen Kanon, ist jedoch etwas ganz anderes als der Kampf um die Inhalte des Kanons. Er ist nicht Ausdruck einer besonderen Intensität der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern, im Gegenteil, Indikator einer gesellschaftlichen Agonie. Es finden keine Identitätskämpfe mehr statt. Beliebigkeit und Gleichgültigkeit dominieren. Entkanonisierung oder Kanonverlust im Bereich der Kultur sind etwas ähnliches wie Entropie in der physikalischen Welt: Ordnungsverlust durch das Verschwinden von Differenz bzw. Differenzierungsfähigkeit. Denn genau das stellt der Kanon dar: Er differenziert nach Bedeutung und Wertigkeit.

Vom Nutzen (und Nachteil) des Kanons für den Kulturbetrieb
Der Kanon der Bildungsgüter steht für den Verbindlichkeitsanspruch einer Kultur; man kann damit Eintönigkeit und Langeweile verbinden, eine unnötige Beschränkung des Blickfeldes und die nicht selten politisch beeinflusste Lenkung der Wahrnehmung. Aufmerksamkeit ist, wie Georg Franck gezeigt hat, eine begrenzte Ressource. „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, wie Franck es genannt hat, bedeutet, dass manches nicht wahrgenommen werden kann, weil der Blick notorisch auf anderes gerichtet ist, vor allem, was die Probleme und Fragen der Vergangenheit anbetrifft. Der Kanon ist immer auch ein Instrument der Aufmerksamkeitssteuerung.

Aber der Kanon schützt gegen den Einbruch der Beliebigkeit. Er zwingt zu gründlichem Denken; er verhindert, dass wir uns der Logik des Grenznutzens (Böhm-Bawerk) überlassen, es damit bewenden lassen, wenn wir ein Thema in groben Zügen in Augenschein genommen haben, und uns nunmehr einem neuen zuwenden. Der Kanon sorgt dafür, dass ein Thema gründlich und genau durchgearbeitet wird. Nicht bloß einmal, sondern immer und immer wieder. Das kanonisierte Wissen der Rezipienten ermöglicht die Intensität der Auseinandersetzung und zwingt diese zu permanenten Innovationen in der Ausdeutung desselben Materials. Es ist der Kanon, der den Regisseuren und Dramaturgen Bedeutung verleiht. Sie werden zu Kräften der Innovation im Feld der Beharrung. Aber auch bei den Dramatikern selbst zwingt der Kanon des Wissens zu präziser Reflexion. Die griechische Tragödie von Aischylos über Sophokles zur Euripides ist dafür ein Beispiel. Es war gerade die Begrenztheit der Mythen, die den attischen Tragikern zur Verfügung stand, die sie zur Intensität der Reflexion und Problemzuspitzung zwang. Oder denken wir an die Bearbeitung des Jeanne d’Arc-Stoffs durch Voltaire, Schiller und Brecht.

Der Kanon erzwingt die Fortentwicklung einer Kultur in ihrer facettierten Selbstreflexion. Er ist eine Reflexionsressource ohnegleichen. Kanonverlust bzw. Kanonverzicht ist dagegen die Lizenz auf intellektuelle Anspruchsabsenkung, auf reduzierte Präzision des Denkens. Eine Kultur ohne Kanon erlaubt die beliebige anstelle der bestimmten Innovation. Die bloße Neuigkeit wird zum Qualitätskriterium.

Vom Nutzen des Kanons für die sozio-politische Selbstreflexion
Bei den Theaterleuten und Literaten aus dem Osten hat sich eine gewisse Melancholie breitgemacht. Man will die alten Verhältnisse nicht zurück, aber man erinnert sich mit einer gewissen Wehmut daran, dass Kunst und Kultur unter den früheren Verhältnissen von den Herrschenden ernst genommen, ja gefürchtet worden sind. Dementsprechend ließen sie Kunst und Kultur beobachten und überwachen und reagierten auf Missliebiges und Gefährliches mit Verboten und Repression. Die liberale Gesellschaft, die im Prinzip alles zulässt, kennt allenfalls den Skandal – im Theater, in der Literatur, in der Politik. Der Skandal ist das bevorzugte Mittel der Aufmerksamkeitssteuerung in der liberalen Gesellschaft. Häufig geht es dabei aber um nicht mehr als bloße Aufgeregtheitsinszenierung zum Zwecke der besseren Unterhaltung.

Wirklich relevant ist dagegen der Kampf um den Kanon. Er wird zwischen dem Intendanten und dem Publikum eines Theaters geführt, aber wichtiger und folgenreicher noch ist die Festlegung des Bildungskanons durch die Kultusverwaltung bzw. die Kultusministerkonferenz. Der Kanon ist hier der Statthalter eines autoritären Regimes in der liberalen Gesellschaft. Nur wo es einen Kanon gibt, kann er angegriffen und verteidigt werden. Nur dort findet die “Arbeit der Zuspitzung“ statt, wo mit literarischen und darstellerischen Mitteln eine Gemeinde aufgespalten und polarisiert wird, um in einen – produktiven – Konflikt verwickelt zu werden. Der Prozess der Selbstreflexion durch die Klärung der eigenen Position wird in Gang gesetzt, indem die Haltung des Achselzuckers, des Gleichgültigen und Nichtengagierten begrenzt und schließlich unmöglich gemacht wird. Identitätsfragen werden in kulturellen Konflikten geklärt. Hier geht es nicht um Verteilungskonflikte, die in Form von Kompromissen befriedet werden können, sondern um Wert- und Normfragen, in denen es ums Ganze geht und Kompromisse immer etwas Unbefriedigendes haben. Wo alles möglich, weil alles beliebig ist, kommen solche klärenden und orientierenden Konflikte nicht in Gang. Der Kanon ist der Statthalter dessen, woran wir uns reiben können, wenn kulturell alles möglich und nichts verboten. Er zwingt uns, Farbe zu bekennen und zu uns zu kommen, wir selbst zu werden, als Individuen wie als Gesellschaft. Seit dem klassischen Athen kommt dem Theater hierbei eine zentrale Funktion zu.