Die Außenseiter

Gesellschaftsdebatte

Feuilleton, 07.03.2014
von Christine Dössel

Dass in München die Schiller- und die Goethestraße im Bahnhofsviertel liegen, hat einen ganz eigenen Reiz. Ausgerechnet hier, wo München am fremdartigsten, migrantisch-weltstädtischsten ist, wo sich die Stadt einen multikulturellen Anstrich gibt und sich darüber hinaus so etwas wie eine Rotlichtszene erlaubt, ausgerechnet diese Straßen benannt nach Deutschlands Nationaldichtern - wie viel Ironie schwingt hier mit. Und wie viel deutsche Zukunft klingt an.

Die Galerie Kullukcu & Gregorian, ein fensterloser Veranstaltungsraum, betrieben von zwei Künstlern und Regisseuren, befindet sich in einem Wohnhaus in der Schillerstraße 23, zwischen einem Alles-rund-um-den-Computer-Laden und dem "Imbiss Salam". Man muss mit dem Aufzug in den dritten Stock fahren. Klappstühle, ein langer, schräg in den Raum gestellter Diskussionstisch mit Mikrofonen, eine improvisierte Bar. Der Rotwein zwei Euro. Das "Göthe Protokoll" hat eingeladen zum "Döner Salon". Thema: "Struktureller Rassismus" - hauptsächlich im Bereich Theater, aber auch in anderen Institutionen wie Medien, Museen, Verwaltung. (Post-)Migranten in Deutschland fühlen sich in diesen Bereichen ausgeschlossen, diskriminiert. Sie fordern Zugang. Partizipation. Teilhabe als Selbstverständlichkeit.

An die 60 Leute sind gekommen, einige extra aus anderen Städten, Aktivisten, Diskutanten, Sympathisanten. Die Stimmung heiter-gelassen zu nennen, wäre falsch - der Humor wurde gleich an der Tür abgegeben -, aber sie ist auch nicht so aggressiv aufgeputscht, wie es nach den Diskussionen der letzten Wochen und den zornigen, teils radikalen Kommentaren in sozialen Netzwerken, Blogs und Internetforen zu befürchten stand. Alle bemühen sich um Sachlichkeit, Argumente, Nachdrücklichkeit. Hier gehe es "nicht nur um politischen Aktionismus", wie der Musiker und Kulturveranstalter Tuncay Acar zum Auftakt sagt, sondern um Austausch und Diskussion, um die Standortbestimmung einer "Bewegung", die von der "enormen Resonanz", die sie binnen kurzer Zeit ausgelöst habe, selber überrascht sei.

Der gebürtige Münchner Tuncay Acar, Sohn türkischer Gastarbeiter, ist Gründungsvater und Kopf des "Göthe Protokolls". Auf Facebook beschreibt sich das Netzwerk als eine "Gruppe von Menschen, die überwiegend in München leben und arbeiten und sich zum Ziel gesetzt haben, die kulturelle Diversität in der Kunst, der Stadtgesellschaft zu erhöhen und transkulturelle Bewegungen mit eigenen Projekten künstlerisch und politisch zu unterstützen". Die Gruppe mag noch lokal sein - ihr Anliegen ist es nicht.

Vor allem in der Theaterszene gärt das Thema schon länger. Plattformen wie das 2011 gegründete Aktionsbündnis Bühnenwatch weisen auf Diskriminierungen von farbigen Schauspielern und "rassistische Praktiken" auf deutschen Bühnen wie das sogenannte Blackface hin. Blackface ist, wenn weiße Darsteller sich schwarz anmalen und zur Belustigung eines weißen Publikums den "Neger" geben - eine Maskerade, die aus den amerikanischen Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts stammt. Blackface hat in Deutschland keine Tradition. Aber als an Didi Hallervordens Berliner Schlossparktheater Ende 2011 in dem Stück "Ich bin nicht Rappaport" ein Schauspieler mit schwarzer Schminke auftrat, fühlten sich viele an diese rassistische Praxis erinnert und schlugen Alarm.

Es mehren sich auch jene Stimmen, die den Schauspielhäusern "institutionellen Rassismus" vorwerfen und das Theater eine "weiße Bastion" nennen, gemacht "von Weißen für Weiße" - eine "Parallelgesellschaft". Menschen mit Migrationshintergrund kämen auf deutschen Bühnen so gut wie nicht vor, auch nicht im Publikum.

Rassismus ist ein schwerer Vorwurf. Fakt ist: Die Diversität der heutigen deutschen Gesellschaft, die Realität eines modernen, multi-ethnischen Einwanderungslandes spiegelt das Theater nicht wieder.

Wobei es sich ja ganz viel Mühe gibt, Gesellschaft abzubilden. Dazu holt es neben all den Otto-Normalverbrauchern, Jugendlichen und Senioren, die derzeit landauf, landab die "Bürgerbühnen" bevölkern, gerne auch Problemkids und Migranten in seinen Schoß oder sucht sie in "Theaterrecherchen" und "Stadtraumprojekten" auf.

Ein solches Vorhaben der Münchner Kammerspiele gab letzten Herbst den Ausschlag für jene Empörung, die zur Gründung des Netzwerks "Göthe Protokoll" führte. Per Mailaufruf hatte das Theater versucht, Akteure für das - für Juni geplante - Stadtprojekt "Niemandsland" des Niederländers Dries Verhoeven zu gewinnen, bei dem jeweils "ein Mensch mit Migrationshintergrund" einen Zuschauer durch "ein migrantisch geprägtes Viertel" führen soll, "wobei dieser per Kopfhörer viele mögliche Geschichten der ,Migration' hört".

Der "Migrant" als der Fremde, von geneigten Bildungsbürgern bei einem "Stadtspaziergang" betrachtet - Tuncay Acar schäumte in seinem Blog: "Hört doch auf damit, verdammt! Der Stoff ist durch, Leute! (. . .) Ich werde einen Teufel tun und euch zum dreitausendfünfhundertsten Mal mein ,migrantisches Bahnhofsviertel' erklären! Bin ich Kasperle oder was? Das ist auch euer Viertel, verdammt. Guckt es euch halt an. Ist doch auch euer Land, eure Stadt, eure Geschichte . . ."

Viele haben sich dieser Kritik angeschlossen, seither reißt der Proteststurm nicht ab. Unter dem Titel "Welch ein Theater?" lud das darob gegründete "Göthe Protokoll" schon im Dezember zu einer ersten Diskussion in den Münchner Milla-Club. Es nahmen daran vom Kammerspiele-Intendanten Johan Simons über den Chefdramaturgen des Residenztheaters Sebastian Huber bis hin zu Christian Stückl, dem Leiter des Münchner Volkstheaters, auch alle Vertreter der großen Häuser teil. Das Migrantenthema treibt sie alle um. Die Auseinandersetzung damit fängt gerade erst an. Sie ist überfällig.

Der "Döner Salon" in der Galerie Kullukcu/Gregorian ist insofern erst mal eine Sondierung dessen, was man da angestoßen hat. Der indischstämmige Schauspieler Murali Perumal berichtet der Runde von den zahlreichen Reaktionen, die sein im Internet verbreiteter "Offener Brief" zum Thema Theater und Migranten ausgelöst hat (der Brief war eine Antwort auf den Artikel "Offene Türen" vom 11. Dezember 2013 im lokalen Kulturteil der SZ, in dem über die Diskussion im Milla-Club berichtet wurde). Perumal, 1978 geboren in Bonn, beschreibt und kritisiert darin, dass Schauspieler mit sichtbarem Migrationshintergrund, so wie er einer ist, auf den hiesigen Bühnen keine Rolle spielen. Wenn überhaupt, dann würden sie nur als Gast engagiert, für "spezielle Migrantenstücke" auf Nebenbühnen oder explizite Ausländerrollen in Stücken wie "Der Kampf des Negers und der Hunde" oder "Das Fest". Er selbst höre von Dramaturgen immer wieder, er sei "zu speziell" - ein indogermanischer Schauspieler aus Bad Godesberg, der hervorragend Deutsch spricht, seine Muttersprache.

Perumal vermutet, dass das Theater da sein Publikum unterschätzt. Im Fußball sehe es doch auch einen Boateng oder Sami Khedira ohne Verstörung. "Was macht denn der Zuschauer, wenn ich auf die Bühne komme. Rennt er raus?"

Bestärkt durch die vielen positiven Zuschriften auf seinen Brief, spricht der Schauspieler vom "Bollwerk Theater" und zieht gar Vergleiche mit der EU-Grenzpolizei Frontex heran, wenn er die grundsätzliche Ausgrenzung von Schauspielern asiatischer, afrikanischer oder südamerikanischer Herkunft brandmarkt.

Fakt ist: Während "die Weißen" ganz selbstverständlich fremdländische Rollen wie Shakespeares Othello oder den Sultan Saladin in Lessings "Nathan, der Weise" spielen, schließt das Theater migrantisch aussehende Schauspieler notorisch von den weißen Rollen des bürgerlichen Repertoires aus. Ein schwarzer Hamlet? Eine Türkin im deutschen Trauerspiel? Ein indisch aussehender Prinz von Homburg? Ja, wo gibt's denn das?!

Wer nicht reinkommt, ist auch nicht drin, der kann sich nicht ausprobieren, nicht beweisen, kann niemanden für sich einnehmen - und er kann auch nicht besser werden. "Mangelnde Qualität" ist häufig ein Argument gegen migrantische Schauspieler. Auch Karin Beier führte es ins Feld zur Begründung für das schnelle Scheitern ihres multi-ethnischen Ensembles am Schauspiel Köln.

"Das mag partiell zutreffen", sagt die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi, die zur Unterstützung des "Göthe Protokolls" aus Berlin angereist ist. Aber dieses Argument für den Ausschluss sei ja selber wiederum einem strukturellen Ausschluss geschuldet, "eben weil viele der Künstler_innen gar keine Möglichkeiten bekommen, Erfahrungen zu sammeln und immer gleich in Schubladen gesteckt werden. Was eine Rassifizierung ihrer Arbeit ist." Sie sagt tatsächlich "Rassifizierung".

Die Kulturwissenschaftlerin Sharifi, Forschungsschwerpunkt "Postmigrantisches Theater", hängt automatisch ein "_innen" an, wenn sie von Personengruppen spricht, um korrekterweise auch deren weibliche Mitglieder zu benennen; und nicht-weiße "Schauspieler_innen" heißen bei ihr "Menschen of Color". Schon diese Begrifflichkeiten zeigen, auf welch glattem Eis der Political Correctness man sich in dieser Debatte bewegt.

Azadeh Sharifi gehört einem "Bündnis kritischer Kulturpraktiker_innen" an, das sich im Januar in Berlin unter dem Namen "Mind the Trap" formiert hat - als Gegenreaktion auf eine kulturwissenschaftliche Tagung am Deutschen Theater Berlin unter dem Titel "Mind the Gap - Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung". Ziel dieser Fachtagung war es, "bei jungen Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund aus nicht westlichen Herkunftsländern, Menschen mit Behinderung und Menschen mit geringen Einkünften" jene "Schwellen" abzubauen, die sie daran hindern, "klassische Kultureinrichtungen" wie das Theater zu besuchen. Eingeladen war von den genannten Gruppen allerdings niemand.

"Wieder einmal wurde vom monokulturellen Biotop über uns geredet, aber nicht mit uns", kommentiert das Sharifi. In einer auf Video festgehaltenen "Intervention" stürmte sie deswegen mit anderen "Aktivist_innen" die "Mind the Gap"-Konferenz, um an Ort und Stelle höflich, aber dezidiert ihren Standpunkt klar zu machen. Mit dem Bündnis "Mind the Trap" plant sie nun eine Gegenkonferenz.

Protest formiert sich derzeit auch gegen die Aufführung von Jean Genets Unterdrückten-Satire "Die Neger" bei den Wiener Festwochen. Johan Simons will das Stück mit drei weißen Schauspielern inszenieren, die sich auf der Bühne in die titelgebenden Schwarzen verwandeln.

Der postmigrantische Kulturaufstand hat begonnen. Er zeitigt fragwürdige Wortschöpfungen wie den Begriff "Biodeutsche" (als Pendant zu Deutschen mit "Migrationshintergrund") und wütende Statements wie das des Künstlers Bülent Kullukcu, der sagt: "Wir verlangen hier unser deutsches Recht. Wir sind die neuen Deutschen!" Er hat unangenehme Ausschläge wie jede Revolte, aber das Unbehagen, das er auslöst, tut der Sache gut. Die kritisierten Institutionen stehen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck, allen voran die Theater. Die meisten wissen ohnehin, dass sich was ändern muss. Auch wenn sie den Vorwurf des Rassismus von sich weisen.

Einer, der selber aus dem institutionalisierten Theaterbetrieb kommt und an den Münchner Kammerspielen Stadtraumprojekte wie "Bunnyhill" oder "Hauptschule der Freiheit" verantwortete, der Dramaturg und Autor Björn Bicker, beteuert den Diskutanten des "Göthe Protokolls", "dass da keine Rassisten in den Theatern hocken", im Gegenteil: "Die meinen es alle gut." Es gebe in Deutschland nur kein Bewusstsein für strukturellen Rassismus, "Rassismus wird mit Nazis und Rechtsradikalen gleichgesetzt". Bicker hält den Ausschluss in der Hochkultureinrichtung Theater sogar für gewollt, da "identitätsstiftend". Das sei der eigentliche Sinn dieser bürgerlichen Institution: "Dass sich eine Gesellschaft dort ihrer selbst vergewissert: Schaut, wie wir sind! Und die, die nicht da sind, das sind die Anderen."

An das Theater als Form glaubt Bicker trotzdem noch: "Um ein neues gesellschaftliches Wir zu kreieren, braucht man Orte. Genau das könnte Theater leisten, dieses Inszenieren von Gemeinschaft."

Einen Identifikationsort für all die Ausgeschlossenen gibt es bereits: das Berliner Gorki Theater unter der neuen Leitung von Shermin Langhoff, die zuvor das kleine Ballhaus Naunynstraße postmigrantisch aufgemischt hat. Langhoff ist die erste türkischstämmige Intendantin an einem deutschen Stadttheater, ihr Ensemble eine bunte Truppe mit vielfältigstem Migrationshintergrund. Ihr Vorhaben: "Öffnung hin zu einer Stadtgesellschaft, die wir diverser wahrnehmen, als sie bisher auf Bühnen verhandelt wird."

Ob vom postmigrantischen Gorki-Trupp das Theater der Zukunft erfunden und ein "interkulturelles Mainstreaming" etabliert wird - analog zum Gender-Mainstreamig -, muss sich zeigen. Tatsache ist: Das Haus brummt und gilt gerade in der jungen, international gemischten Szene Berlins als absoluter Hot Spot.

Vom Münchner Bahnhofsviertel aus blicken die "Göthe"-Protokollanten sehnsüchtig nach Berlin. Das Gorki Theater: Insel der Hoffnung - Bühne of Color.