Was wir so alles rausdonnern

Das Theater fühlt sich gehetzt – doch Deutschlands Bühnen wollen nicht jammern, sondern kämpfen

Süddeutsche Zeitung
Feuilleton, 04.06.2012 
von Christine Dössel

Man stelle sich vor, die deutsche Wirtschaft, sagen wir ein Verbund aus BDI und BDA, würde in dieser Zeitung und in anderen Blättern eine groß angelegte Werbekampagne schalten mit Slogans wie: „Wir stehen zur deutschen Kultur!“ oder „Kultur ist unser Gut“, oder wie immer das findige Werbetexter dann formulieren. Abwegig?
Wieso eigentlich nicht? Ein klares Bekenntnis der Wirtschaft zur Kultur unseres Landes, zu kulturellen Einrichtungen und kultureller Bildung, zum Bestand und zur Bedeutung von Theatern, Orchestern, Opernhäusern könnte eine immense Image- und Signalwirkung haben und würde politisch wie moralisch unterstützend wirken. „Wir brauchen solche Signale an die Politik“,  darin waren sich alle Theaterintendanten und Direktoren einig, die am Samstag nach der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins in Ingolstadt noch zur abschließenden Podiumsdiskussion zum Thema „Wirtschaft – Stadt – Kultur“ geblieben waren. Die Idee mit der Anzeigenkampagne, formuliert von Bühnenvereinspräsident Klaus Zehelein, wurde denn auch allgemein für gut befunden und den Wirtschaftsvertretern auf dem Podium mit auf den Weg gegeben.
Wer daraus ablesen will, dass sich die Kulturschaffenden der deutschen Bühnen schwer in der Bredouille und allein gelassen fühlen und die Stimmung womöglich gen Muffensausen tendiert, wurde beim Treffen in Ingolstadt in leidenschaftlichen Einlassungen eines Besseren belehrt. Nein, rumjammern tun sie nicht. Schwarzsehen auch nicht.
„Es hat sich eher etwas Kämpferisches durchgesetzt“, bringt Rolf Bolwin, der geschäftsführende Direktor des Bühnenvereins, das allgemeine „Selbstbewusstsein“ auf den Punkt. 250 Intendanten und Direktoren deutscher Bühnen und Orchester, unter ihnen etliche verantwortliche Kulturpolitiker, waren zu der Klausurtagung nach Ingolstadt gekommen, haben sich Impulsreferate und die Sorgen der anderen angehört, über ihre gegenwärtige Situation, ihre Zukunft und über aktuelle Fragen wie die nach dem Urheberrecht in digitalen Zeiten nachgedacht. Bolwins Resümee, aller „Krisenherde“ zum Trotz: „Der Blick ist nach vorn gerichtet, die Stimmung alles andere als resignativ.“ Die Theater seien „inhaltlich und strukturell in Bewegung“ und schon längst nicht mehr die lahmen, schweren Tanker, als welche sie lange Zeit galten.
Das nimmt auch Ulrich Khuon so wahr, Intendant des Deutschen Theaters Berlin und Vorsitzender der Intendantengruppe im Bühnenverein. Nach zwei Tagen „rückhaltlos offener“ Gespräche mit den Kollegen von anderen Häusern, inspiriert durch Impulsreferate von Künstlern wie Hans-Werner Kroesinger, der als Dokutheater-Regisseur auch ein Rechercheur ist und sich schon mal ein Jahr Zeit nimmt für ein Projekt, nach intensiven Diskussionen und Selbstbefragungen macht Khuon inhaltlich für den Bereich Schauspiel zwei Ergebnisse aus: „Erstens: Wir müssen uns mehr öffnen und uns selber irritieren, durch Austausch, Kollaborationen, andere kulturelle Erfahrungen. Zweitens: Wir dürfen uns dabei nicht verzetteln. Es gibt eine große Sehnsucht nach Konzentration.“
Erfreulich, dies zu hören, sind die Theater in den letzten Jahren doch dazu übergegangen, mehr und immer mehr zu produzieren, wodurch die Qualität zum Opfer fiel. Dass es zu diesem Produktionswahnsinn kam, begründet Khuon einerseits mit „Aufmerksamkeitsgenerierung“, andererseits, sagt er, habe das schon auch mit der Neugier und dem Willen der Theater zu tun, die „enorme Diversität der Gesellschaft“ abzubilden und „auf allen Konflikt- und Repräsentanzfeldern vertreten zu sein“, politisch wach, flink, agil. Und das werde ja auch gewünscht – kaum passiere ein Amoklauf, komme die Frage: „Und wo habt ihr das Stück dazu?“
Gegen das Vorurteil, ein unbeweglicher Tanker zu sein, haben die Theater wirklich fleißig anproduziert. Jetzt fühlen sie sich „gehetzt“, wie Juliane Votteler, die Intendantin des Augsburger Theaters, es offen einräumt. „Gerade haben wir ‚Romeo und Julia‘ rausgedonnert“, sagt Votteler in ihrer erfreulich resoluten Art, „überhaupt donnern wir die Sachen nur noch raus. Dabei müssten wir uns doch selber mal wieder auftanken.“
„Konzentriert euch!“, lautet die Devise wider die Kurzatmigkeit. Und politisch? Ist in Zeiten klammer Kassen natürlich einiges im Argen. Die Krisenherde, an denen es besonders brenzlig ist, befinden sich derzeit in Nordrhein-Westfalen und in Mecklenburg-Vorpommern, wo zum Beispiel das Theater Schwerin existenziell zu kämpfen hat – in einem Land, das seinen Etat für Bühnen und Orchester seit 1994 nicht mehr erhöht hat, was es, wie Klaus Zehelein mit fast schon absurdem Gelächter berichtet, bis ins Jahr 2020 fortzusetzen gedenkt. Das sind so die Baustellen, und der Bühnenverein schickt dann schon mal eine Art mobile Einsatztruppe zu Gesprächen und Klausurtagungen mit Politikern und Verantwortlichen am Krisenort.
Fast gar kein Thema mehr war bei der Jahreshauptversammlung das umstrittene Buch „Der Kulturinfarkt“ von jenen vier Autoren, die behaupten, es gebe in Deutschlands Kulturbetrieb von allem zu viel und überall das Gleiche. Bühnenvereinspräsident Zehelein nennt sie nur „die Kultur-Berlusconianer“. Da diese vier in ihrem Buch überhaupt keine Option für die Zukunft eröffneten, nur die Kunst reduzierter und marktgängiger haben wollten, liege darin kein Anstoß für eine Diskussion. Allerdings gibt es durchaus ein Problem mit diesem „schmalen Werk“, Ulrich Khuon benennt es: „Die Politiker beziehen sich darauf, nämlich auf die Ansage: Die Hälfte tut’s auch.“ Das sei wie bei Sarrazin: Die Vorurteile waren schon in den Köpfen, aber nun stehen sie als Diagnose im Raum.
Kultur muss zwar immer noch erkämpft werden – häufig bei Politikern, die, wie Zehelein sagt, erschreckenderweise „nicht einmal mehr fragen, was sie unterfinanzieren“. Andererseits weiß inzwischen jeder, auch die Wirtschaft, dass Kultureinrichtungen von unverzichtbarer Bedeutung für eine Stadt und die Zukunft einer Stadt sind. Peter F. Topschuh, Leiter der Corporate Responsibility beim Ingolstädter Autohersteller Audi, ließ bei der Diskussion am Samstag keinen Zweifel daran, dass ein attraktives kulturelles Umfeld wichtig ist, um gute Mitarbeiter zu gewinnen. Und Ingrid Hamm, Geschäftsführerin der Robert-Bosch-Stiftung, erklärte im ökonomiekompatiblen Jargon eines cultural business speak, dass Kultur das „asset“ der Zivilgesellschaft sei, unverzichtbar für die Pluralität ebenso wie für die Innovations- und Integrationsfährigkeit einer Gesellschaft. Nicht direkt mit „Nutzen“ verbunden, sei Kultur jenes „add-on“, welches der Motor ist für das, was eine Stadt ausmacht: von der Architektur über den Habitus und Kleidungsstil der Menschen bis hin zum Diskurs einer Stadt.
Es ging um Kultur-Sponsoring bei dieser Diskussion, eine Praxis, die allgemein begrüßt, nicht aber als Lösung und Stopfungsersatz für die Löcher in den städtischen Etats betrachtet wurde. Am öffentlichen Auftrag, Kultur zu fördern, führt kein Weg vorbei, und es kann dafür gar nicht genug klare Bekenntnisse wie etwa das des Ingolstädter Kulturreferenten Gabriel Engert geben. Aber Ingolstadt ist ohnehin eine „Insel der Seligen“, wie die Besucher aus maroderen Städten nicht müde wurden zu betonen.
Zwei Resolutionen hat der Bühnenverein dann auch noch verabschiedet. Da wird zum einen eine behutsame Lockerung des Urheberrechts gefordert, damit es für die Bühnen leichter wird, Trailer oder Ausschnitte aus Inszenierungen ins Internet zu stellen und damit in der digitalen Welt mitzuhalten. Zum anderen sagt der verein der DienstleistungsgewerkschaftVerdi dezidiert den Kampf an – Verdi versucht nämlich, die künstlerischen Mitarbeiter der Theater (Inspizienten, Techniker, Beleuchter) in den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes zu überführen. Damit verlören sie den Normalvertrag (NV) Bühne, der ihnen viel mehr künstlerische Flexibilität ermöglicht. Der Vorschlag sei eine „Attacke gegen die Tarifbedingungen der Künstler“, heißt es in der Resolution. „Das Theater ist ein Kunstbetrieb, keine behörde.“
Das Theater ist vor allem eine Form der menschlichen Kultur. 35000 Jahre alt sei das älteste aufgefundene Musikinstrument, eine Knochenflöte, gefunden auf der Schwäbischen Alb, sagt Klaus Zehelein wie zum Beweis für den kulturellen Austritt des Menschen aus dem Neandertal. „Die Einführung der Doppelten Buchführung ist dagegen allenfalls 650 Jahre alt.“