Fukushima

Hans-Thies Lehmann

Nach „Three Eleven“ mit seinen verheerenden Folgen in Japan und weltweiten Auswirkungen (Beispiel: die Wende in der deutschen Atompolitik) ist gerade in Japan unübersehbar geworden, dass Kunst Antworten auf eine tief veränderte Umwelt finden muss: Kunst muss zum Problem machen die Art wie sie gemacht, wie sie präsentiert, wie sie rezipiert wird. Als Besucher des Tokyo Festival 2011 spürte ich überall die drängende Suche nach solchen neuen Antworten. Alles liegt gleichsam in einem neuen Licht, und besonders das Theater, weil es vielleicht die am tiefsten und unmittelbarsten „soziale“ Kunst ist: gesellig und gesellschaftlich von Natur aus, öffentlich, gemeinsam von vielen hergestellt und aufgenommen, Ort einer passageren „Gemeinschaft“ von Akteuren und Besuchern, ein Ort, an dem wie kaum sonst irgendwo gemeinsames Denken stattfinden kann – und zwar eine sehr besondere Art von Denken. Ein Denken vielleicht in dem Sinne, wie Heidegger sagen konnte: Die Wissenschaft denkt nicht. Und gegenwärtig kann man auch den Eindruck gewinnen, dass wir eine Politik haben, die nicht mehr wirklich denken kann, sonder nur noch rechnen und zählen. Denken im Theater ist ein Denken, das sich nicht von spontaner Empathie und Mitgefühl, von Sinnlichkeit, vom Eros des Sehens und Hörens abspaltet. Der Gegenstand dieses Denkens im Theater ist aber gerade das, was in ihm in jedem Moment zugleich stattfindet: das Zusammensein. Wie steht es, das ist die Frage des Theaters, um die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens, ob und wie können wir uns gegenseitig wahrnehmen, mitfühlen, „verstehen“, mit einem Wort: kommunizieren? Nicht nur in Japan stehen wir vor der Aufgabe, neu zu denken, was es in der Gegenwart bedeutet, eine Welt gemeinsam zu bewohnen.

Die unvorstellbare Katastrophe, eigentlich eine Mehrzahl von Katastrophen bedroht in Japan sehr direkt auch die Möglichkeit der Kunst in vieler Hinsicht und sehr real: praktischökonomisch.

Jedoch gibt es einen Hoffnungsschimmer: die Katastrophe der Tragödie ist oft zugleich auch eine Anagnorisis: plötzliche Erkenntnis und Einsicht. Aus dem Zusammenbruch kann auch ein Aufbruch werden. Die Pollution kann sich auch in eine Katharsis wandeln.
Die vor allem urbane Landschaft unserer Gegenwartszivilisation sehen viele nach der Katastrophe mit neuen Augen. Gewiss bleibt die Liebe, oft auch eine Hassliebe, zu dieser menschengemachten zweiten Natur, die unseren Erfahrungen einen Raum, eine Zeit bietet, die unvergleichlich ist und uns in jedem Moment fühlen lässt, dass wir in einer technisch, technologisch geformten, auch verformten Zeit leben, in keiner anderen, und die trotz aller Widersprüche auch fasziniert. Da ist aber auch, verschärft und unumgänglich, das Gefühl einer Fragilität, einer Bedrohtheit – nicht nur durch natürliche Katastrophen, sondern durch die Menschen selbst. Dafür sind die enormen Risiken der Atomkraft ebenso wie die weltweite Bedrohung des Öko-Systems zentrale Symbole. Die Skepsis wächst, ob wir mit unserer Art und Weise des Zusammenseins auf dem richtigen Weg sind. 1922 schrieb der hellsichgtige Brecht die berühmte Zeile „Von diesen Städten wird bleiben der durch sie hindurchging der Wind“ – er schrieb das über Berlin.

Solche Gedanken waren beim Besuch des Tokyo Festival auf eigentümlich intensive Weise meine ständigen Begleiter. Theater ist in dieser Stadt für mich kaum zu trennen vom Erleben der Metropole selbst – die mir immer wieder neu wie eine absolut faszinierende Total-Installation vorkommt in ihrer Verbindung von High Tech, Architektur und Betriebsamkeit.(Leider konnte ich nicht alle Projekte im städtischen Raum erleben, etwa die Arbeit von Yukichi Matsumoto oder auch das Projekt von Romeo Castellucci.) - Ein anderer Hintergrund meiner Beobachtungen war das Flair der Begegnung mit Kunstleuten aus allen Teilen der Welt, die sich hier wie ich in besonderer Weise trotz der Fremdheit in einer anderen Umgebung sonderbar zuhause zu fühlen scheinen. Das hat gewiss auch mit der eigentümlichen Qualität der Alltagskultur zu tun hat: dem ausgeprägten Formbewusstsein und der Sorgfalt, die man auf kleine Dinge des Alltags verwendet, die sonst kaum beachtet werden, in Japan aber den Charakter von kleinen Aufführungen annehmen: Begrüssungen, das Vorstellen, Gespräche, das Essen. Die zuvorkommende Freundlichkeit und Höflichkeit dem Gast gegenüber ist mir Grund weltberühmt. Und kaum jemand wird den Japanern den größten Respekt versagen über die Fassung, mit der sie das Schlimmste ertrugen und ertragen.
Das Theater in Europa hat der japanischen Theaterkunst viel zu verdanken. Seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts hat es auf die historischen Avantgarden, auf Brecht und Heiner Müller, auf Performance, Alltagskultur und ihre Spuren in Kunst und Performance inspirierende Impulse gebracht. Dass es gerade die japanische Theater- und Tanzkunst ist, die führend bei der ästhetischen Erforschung des Alltäglichen wurde, die das Theater in der letzen Zeit so sehr beschäftigt, ist kein Zufall. Und dieser Versuch prägte auch die Mehrzahl der Arbeiten, die ich sehen konnte. Es war Theater einer besorgt forschenden Erkundung unseres Lebens - das ist die bleibende Erinnerung an das Theater, das ich im Herbst 2011 in Tokyo sehen konnte. Das waren neben den elf Aufführungen der Emerging Artists Competition „Still Life“ und „Total Living 1986-2011“, „Hemispherical Red and Black“, und ein Teil der Aktivitäten des „Referendum Project“ von Akira Takayama. Das Festival stand insgesamt im Zeichen der Frage „Was können wir sagen?“ Was die meisten Arbeiten miteinander verband, war das Problem, wie die Theaterkunst antworten kann auf die Krise, die Katastrophe, die tiefe Erschütterung, den massenhaften Tod, das Elend, die Schuldfrage, die Konsequenzen.
Das bedeutet, dass in der einen oder anderen Weise die Mehrzahl der Theaterarbeiten sich selbst in Frage stellte. In diesem Sinne waren auch die eingeladenen Gastspiele zum Beispiel von René Pollesch, Romeo Castellucci, Jerome Bel sehr passend. Auch sie sind jedes auf seine Weise Versuche, die Grenzen des traditionellen Theatermodells zu erforschen und über die Grenze der Kunst hinaus auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu blicken.
Die Gruppe Port B um Akira Takayma antwortete auf das gemeinsam erfahrene Gefühl der Verantwortung für die Opfer mit dem Konzept „Referendum“. Indem das Grenzgebiet zwischen Kunst und Praxis bespielt wird, soll Theater zu etwas wie einer künstlerisch initiierten Volksabstimmung über die Nutzung von Atomkraft werden. Statt einer traditionellen Aufführung besucht man verschiedene Veranstaltungen in Regionen des Landes, kann einen fahrbaren Container besuchen, der nach Art eines Internet-Cafes eingerichtet ist, in dem gefilmte Interviews zum Thema mit zahlreichen Menschen auf DVD anzusehen waren: Gemeinschaft als Inhalt und als Form.

Die Frage nach dem Zusammen-Sein gilt auch für die Ethnien, die sich als Gastarbeiter, als Einwanderer im Konflikt zwischen Integration und Anpassung befinden. Als eine Aufführung von bewundernswerter körperlicher Intensität und grotesker Komik zu diesem Thema habe ich „Hemispherical Red and Black“ erlebt (Regie: Yudai Kamisato), das jenseits aller realistischen Abschilderung eine Erfahrung der Fremdheit mit ihren Niederlagen, Revolten und abstrusen Träumen vermittelte. Bei Port B die Öffnung des ganzen Theaterdispositivs, hier ein respektloses Spiel mit Vorurteilen und Klischees, dessen Basis eine zwischen Tanz und Schauspiel angesiedelte, immer wieder extreme und surreal übertriebene Körpersprache war.

Zwei Theaterarbeiten konnte ich sehen, die zunächst mehr poetisch und selbstbezogen wirken konnten, die aber jede auf ihre Weise auch die Spannung zwischen Kunst und der Realität der Katastrophe ausgemessen haben.

Ein Erlebnis besonderer Art war der Tanzabend „Still Life“ von Tsuyoshi Shira. Auf den ersten Blick spielte hier die nationale Katastrophe keine Rolle. Die ungeheure minimalistische Konzentration auf eine Serie von ganz alltäglich und unspektakulär anmutenden kleinen und kleinsten Bewegungsabläufen, die liebevolle Schaffung von Kontaktmomenten der menschlichen Körper mit Boden, Gegenständen, Raum schufen eine intensiv angespannte Aufmerksamkeit, ein Hinsehenwollen, Hinsehenmüssen. Ohne leicht identifizierbaren Sinn, ergaben die Bewegungen und Aktionen eine Choreographie von exzeptioneller Humanität: ein Ereignis der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung des menschlichen Körpers, darin wiederum durchaus politisch.

In raffinierter Weise spielte „Total Live“ mit der Tatsache, dass Theater eine Kunstform ist, in der wir problemlos an die Erscheinung von Toten und Geistern glauben (kaum ist es ein Zufall, dass Akio Miyazawa auch eine Serie zeitgenössischer No-Stücke inszeniert hat). Hier geht es um die nachträgliche Aufklärung eines Todesfalls: im Jahr von Tschernobyl 1986 hat sich eine junge Frau vom Dach eines Hochhauses gestürzt. Diese Recherche eines Dokumentarfilm-Teams verwirrt sich immer mehr mit der Gegenwart. Und in einem bestimmten, auf der Bühne ebenso wunderbaren wie unheimlichen Moment stellen die Dokumentaristen zu ihrer Überraschung fest, dass sie - tot sind, umgekommen im Tsunami bei einer Dokumentation über einen Leuchtturmwärter. Der Abend blieb in aller Trauer leicht, sein Spiel mit An- und Abwesenheit wurde zu einem Moment des Eingedenkens. Theater als Gedächtnis.

Eine der Arbeiten aus dem Emerging Artists Competion möchte ich noch nennen, „Zeitgeber“ von Takuya Murakawa. Auf der Bühne führt ein Helfer eines Schwerbehinderten zeichenhaft seine Arbeit vor: wie er dem Behinderten hilft, bei der Toilette, beim Bewegen in der Wohnung, wie er Essen macht, das Fernsehen einschaltet usw. Aber dies alles geschieht nicht in naturalistischer Abbildung, sondern in ganz feiner und bewegender Weise zeichenhaft. Es ist ein wirklicher Helfer, der die Arbeit vorführt, von der er lebt, kein Schauspieler. Der Behinderte wiederum selbst ist gar nicht auf die Bühne. Stattdessen beginnt die Vorstellung damit, dass der Regisseur vortritt und jemand aus dem Publikum mitzumachen bittet, eine Dame, denn es fehle heute eine. Es findet sich dann auch nach einigem Zögern eine Frau, so dass nun die Aufführung zugleich die Gemeinschaft der Zuschauer im Bewusstsein hält (man sieht die Frau wie einen Teil des Publikums, man könnte in der Vorstellung auch an ihrer Stelle sein) und die Gemeinschaft der Gesunden und der Schwerkranken, Behinderten, die wir gern verdrängen. Die Aufführung versagt sich jede Dramatisierung, jeden Effekt, in allereinfachster Sachlichkeit wird das zu Machende vorgeführt und präsentiert. In jedem Moment bleibt erhalten, dass es sich um Theater handelt. Fukushima kam auf der Buehne nicht vor, aber die Krise und Katastrophe einer Gesellschaft, die die Art ihres Lebens, Wirtschaftens und Zusammenseins radikal überdenken muss, war auf bewegende Weise präsent: vordergründig kein politischer Diskurs, aber eine sehr poetische, lebendige und zugleich sehr politische Praxis einer veränderten Idee von einem Theater des Alltäglichen, die vielleicht die nächste Generation kritischer junger Theaterleute prägen wird.

Theater sucht eine Sprache über dem Abgrund einer mehrfachen Spaltung in einem Gelände voller Verwerfungen: gefordert scheint die direkteste Antwort, öffentliche Stellungnahme, politisch und ökologisch die unzweideutigste Stellungnahme; zugleich aber auch, dass Kunst sich gerade nicht einfach in den Chor öffentlicher Diskurse mischt, als nur eine Stimme unter vielen, sondern ihre ganz eigene Möglichkeit wahrnimmt, Sprachformen und Bilder zu finden und eigene Formen der Kommunikation, des Zusammenseins, der gemeinsamen Nachdenklichkeit. Während die erste Forderung nach Anschluss an existierende Sprechformen und Denkweisen ruft, um gehört zu werden, verlangt der zweite umgekehrt gerade die radikale Infragestellung jener Denk- und Vorstellungsformen, die das Desaster – das nicht nur den Namen Fukushima trägt - hervorrufen. Dieser Zwiespalt ist unaufhebbar und nur immer wieder neu auszuhandeln.

Wir sollten auch nicht unterschätzen, wie tief durch das ungeheuerliche ‚Missgeschick’ auch Selbstgefühl und Stolz verletzt sind. Und da das Bewusstsein der Verbundenheit mit dem Kollektiv so viel stärker ausgeprägt ist als bei uns, trifft das Gefühl der Verletzung auch jene, die nicht so direkt betroffen sind wie unmittelbar Angehörige und Freunde der Opfer. Beinahe etwas wie ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern bemerkt man – zumal es das Unglück wollte, dass die Katastrophe eine der ohnehin ärmsten Regionen getroffen hat, sozusagen den Ärmsten in der Familie.

In früher nicht gekannter Schärfe wird aber jetzt auch in Japan lauter nach Schuld und Verantwortung gefragt. Die mangelhafte Katastrophenvorsorge, die beschwichtigende Informationspolitik, nicht zuletzt die starrsinnige Ausrichtung auf Atomkraft als einzigen Weg zu ausreichender und exportfähiger Energie.

Was kann das deutsche Theater tun, um Solidarität zu zeigen, sich dem Vergessen zu widersetzen? Der erste Gedanke war naheliegenderweise, Gelder zu sammeln für den Wiederaufbau der Infrastruktur der zerstörten oder schwer beschädigten Theater. Aber in Japan sagt einem ein jeder, dass es um etwas anderes geht: was am meisten gefürchtet wird, ist eigentlich das Verlassenwerden. Dass Künstler, Intellektuelle, Besucher ausbleiben, der Austausch versiegt, der für die japantypische Neugier und Offenheit für andere, für unsere Kultur so unendlich wichtig ist. Überall begegnet die Sorge, dass die Zweifel über Gesundheitsrisiken besonders Deutsche dazu veranlassen könnten, gar nicht mehr zu kommen.

Sinnvoll wäre es darum, wenn deutsche Theater sich zusammenfinden würden, um Mittel für ein Programm zu sammeln, das es japanischen Künstlern der Region ermöglicht, Projekte in und mit Deutschland zu realisieren; umgekehrt Künstlern aus Deutschland, in die Region zu reisen. Man könnte – bei allem Realismus – helfen, Ängste abzubauen, die viele sogar von kurzfristigen Besuchen abhalten. Ich möchte dringlich an die deutschen Theater appellieren, sich einmal für eine solche gemeinsame Anstrengung zusammenzufinden, zusammenzulegen für eine Art Artist-in-residence-Programm. Ein solches Austauschprogramm wäre eine echte Hilfe. Eine derartige Förderung der betroffenen Region hülfe auch dem politischen Leben mehr als plakative Forderungen von hier aus – die doch am Ende im japanischen politischen Leben selbst erhoben, diskutiert, ausgehandelt werden müssen.