Fukushima – ein Jahr danach

von Hans-Thies Lehmann

Japan, fast acht Monate nach seinem 3/11, als sich in der Katastrophe der  Region Tohoku die Urelemente Wasser, Feuerhitze, gefährliche Luft, verseuchte Erde apokalyptisch steigerten zur Verwandlung eines großen Landstrichs in eine  Mondlandschaft.

Eine riesige Zahl von Toten und Opfern, die alles verloren haben, eine nicht  endenwollende und vielleicht niemals endende Vergiftung der Region,  unbewohnbar auf unabsehbare Zeit hinaus: das Land steht noch immer im Zeichen der Nachwehen des Schocks – auch wenn wenig davon an die Oberfläche kommt und sich schon gar nicht in Form von Pathos äußert. Allenthalben ist das Bewusstsein einer tiefgreifenden Erschütterung nicht nur des Bodens zu spüren. Im Leben der Stadt Tokyo glaubt man eine gewisse allgemeine Herabstimmung zu fühlen. Die Welt ist auch politisch und gesellschaftlich nicht mehr dieselbe - gedankliche und seelische Versuche, etwas mit Grenzen zu versehen, was nicht an den Ort der Katastrophe zu begrenzen, dort nicht beheimatet ist, unheimlich, unsichtbar durch Wind, Wasser, Organismen sich verbreitet.

Menschen können sich nur in Grenzen gegen Naturkatastrophen schützen, wo wüsste man das besser als in Japan. „Tragödien“ wie Flutwellen und Erdbeben wird es immer wieder geben. (Auch wenn man die Deiche noch höher baut, kann eine noch höhere Flutwelle sie eines Tages überspülen.) Aber die Verbindung mit der Atomkatastrophe hat einen kulturellen Schock hervorgerufen, der tiefer geht als die Verarbeitung eines Katastrophen-Traumas. Eine Erschütterung fundamentaler Ideen, Worte, Werte, Ideale, die die Gesellschaft zusammenhalten.

Es gibt Kollegen, die monatelang – wohl auch in einer Art Identifikation mit dem Schicksal des ganzen Landes – mit einer depressiven Grundstimmung zu kämpfen haben. Theater sucht nach Zeichen, die der veränderten Atmosphäre gerecht werden. Künstler, Seismographen ihrer Zeit, spüren das Beben ihrer Möglichkeiten der Darstellung. Etwas entzieht sich, kann oder will nicht gesagt, ausgedrückt, formuliert werden. So findet man Tat oft ein Theater der - ominöses Wort in der Luft von Japan – Atmosphäre: ein Lebenszustand zeigt
sich, die Stimme und Stimmung eines Grundgefühls von Ohnmächtigkeit, Zaudern, Stillstand. Ohne noch eine bestimmbare Antwort will sich ein manchmal radikales Nein zur Forderung nach blinder performativer Exzellenz, ein Nein zum bedingungslosen Aktiv-Sein, zur Produktion und Effizienz der kapitalistisch organisierten Gesellschaft vernehmlich machen. Das ist keineswegs so unpolitisch wie es auf den ersten Blick scheinen mag – Minimalismus und Reduktion in solchen Performances zeigen auf eine Frage nach dem Nicht-Tun – „Passivität“ als ein erster Schritt zum Anders-Denken und Anders-Sein. In einer Aufführung wird im Spiegel von Einwanderern das „Fremde“ der „eigenen“ japanischen Nation thematisiert In einer anderen stellen ein Dokumentarist und mit ihm die anderen Spieler auf der Bühne, die eigentlich den rätselhaften Tod einer jungen Frau recherchieren, die im Jahre Tschernobyl 1986 von einer Dachterrasse in den Tod sprang, gegen Ende des Spiels fest, dass sie selbst - tot sind: in der Katastrophe von Fukushima umgekommen.

Andere ziehen die Konsequenz, ihr Medium radikal in Frage zu stellen. Macht man überhaupt noch Kunst? Warum? Einer stellt sich - als Aufführung - bohrende Fragen, was es heißt, den Lebensunterhalt mit vielstündiger Arbeit zu verdienen und „daneben“ Kunst zu machen. Bin ich ein Angestellter, der auch Kunst macht, oder ein Künstler, der als Angestellter Geld verdient? Einer will gar nicht mehr Theater machen, sondern sucht eine Form, seine Praxis als zugleich unmittelbar reale öffentliche Aktion, als „Referendum“ zu organisieren (eine politische Institution, die es in Japan bislang nicht gibt), eine öffentliche Volksabstimmung über Atomkraftnutzung. Und sucht dennoch einen Weg, wie das, was er macht, dennoch Theater bleiben kann. Es gibt eine Tendenz zu sehr „kleinen“ performance-ähnlichen Formen von konkret verändertem Leben: ein afrikanischer Künstler teilt für eine Zeit den Alltag mit seinem japanischen Kollegen. Geschärfte Aufmerksamkeit auf das Alltägliche ist ja überhaupt ein Hauptzug der japanischen Tanz- und Performance-Szene.

Kunst und Theater, vordergründig eine Nebensache, wo massive praktische Not und Hilfe auf der Tagesordnung stehen, wo materielle Nöte alle spirituellen Dinge in den Hintergrund drängen, sind von der Situation durch und durch geprägt. Bei jeder Theaterarbeit, die entsteht, fragt man „wie verarbeitet sie das Unglück?“ Theater sucht eine Sprache über dem Abgrund einer mehrfachen Spaltung in einem Gelände voller Verwerfungen: gefordert scheint die direkteste Antwort, öffentliche Stellungnahme, politisch und ökologisch die unzweideutigste Stellungnahme; zugleich aber auch, dass Kunst sich gerade nicht einfach in den Chor öffentlicher Diskurse mischt, als nur eine Stimme unter vielen, sondern ihre ganz eigene Möglichkeit wahrnimmt, Sprachformen und Bilder zu finden und eigene Formen der Kommunikation, des Zusammenseins, der gemeinsamen Nachdenklichkeit. Während die erste Forderung nach Anschluss an existierende Sprechformen und Denkweisen ruft, um gehört zu werden, verlangt der zweite umgekehrt gerade die radikale Infragestellung jener Denk- und Vorstellungsformen, die das Desaster - das nicht nur den Namen Fukushima trägt - hervorrufen.

Die japanische Denkweise hat, man weiß das, mehr von einer Schamkultur als unsere Schuldkultur. Ein alltägliches Missgeschick kann den, der es erleidet, mehr bestürzen als eine Verschuldung. (Weder will man das Bild trüben, das der andere von einem hat, noch will man durch den Anblick des Missgeschicks den anderen inkommodieren, ihm lästig fallen.) So ist nicht zu unterschätzen, wie tief durch das ungeheuerliche ‚Missgeschick’ auch Selbstgefühl und Stolz verletzt sind, ist doch Stolz das, was von der Beschämung betroffen wird. Und da das Bewusstsein der Verbundenheit mit dem Kollektiv so viel stärker ausgeprägt ist als bei uns, trifft das Gefühl der Verletzung auch jene, die nicht so direkt betroffen sind wie unmittelbar Angehörige und Freunde der Opfer. Beinahe etwas wie ein schlechtes Gewissen gegenüber den Opfern bemerkt man – zumal es das Unglück wollte, dass die Katastrophe eine der ohnehin ärmsten Regionen getroffen hat, sozusagen den Ärmsten in der Familie. In früher nicht gekannter Schärfe wird aber jetzt auch in Japan lauter nach Schuld und Verantwortung gefragt. Die mangelhafte Katastrophenvorsorge, die beschwichtigende Informationspolitik, nicht zuletzt die starrsinnige Ausrichtung auf Atomkraft als einzigen Weg zu ausreichender und exportfähiger Energie.

Was kann das deutsche Theater tun, um Solidarität zu zeigen, sich dem Vergessen zu widersetzen? Der erste Gedanke mag naheliegenderweise sein, Gelder zu sammeln für den Wiederaufbau der Infrastruktur der zerstörten oder schwer beschädigten Theater. Aber hier sagt einem ein jeder, dass es um etwas anderes geht: was am meisten gefürchtet wird, ist eigentlich das Verlassenwerden. Dass Künstler, Intellektuelle, Besucher ausbleiben, der Austausch versiegt, der für die japantypische Neugier und Offenheit für andere, für unsere Kultur so unendlich wichtig ist. Überall begegnet die Sorge, dass die – ja nicht unbegründeten – Zweifel über Gesundheitsrisiken besonders Deutsche dazu veranlassen, gar nicht mehr zu kommen. Sinnvoll wäre es darum, wenn deutsche Theater sich zusammenfinden würden, um Mittel für ein Programm zu sammeln, das es japanischen Künstlern der Region ermöglicht, Projekte in und mit Deutschland zu realisieren; umgekehrt Künstlern aus Deutschland, in die Region zu reisen. Man könnte – bei allem Realismus – helfen, Ängste abzubauen, die viele sogar von kurzfristigen Besuchen abhalten. Ein solches Austauschprogramm über künstlerische, dramaturgische, kunsttheoretische Fragen wäre eine echte Hilfe, während der Wiederaufbau in Japan selbst ohnedies als nationale Priorität angesehen wird. Eine derartige Förderung der betroffenen Region hülfe auch dem politischen Leben mehr als plakative Forderungen – die im japanischen politischen Leben selbst erhoben, diskutiert, ausgehandelt werden müssen.